Er trägt eine schwarze Hose und eine schwarze Jacke, blickt minutenlang starr in die Kamera und sagt kein einziges Wort: Cendrim R. (24), Schweiz-Albaner und Mitglied der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), muss sich zusammen mit drei Mitangeklagten in der Türkei für den Anschlag auf eine Polizeikontrolle vom März 2014 verantworten. Drei Menschen starben damals.
Cendrim R. ist in Brugg aufgewachsen, wo seine aus dem Kosovo stammende Familie weiterhin lebt. Er trägt noch immer den Zottelbart und die langen Haare nach Salafistenart wie zum Tatzeitpunkt. Auf die Frage des Richters, ob er etwas sagen wolle, zeigt er keine erkennbare Reaktion, genauso wenig wie zwei seiner drei Mitangeklagten.
All das konnte man gut auf dem grossen Flachbildschirm verfolgen, der an der Wand hinter den drei Richtern im frisch gestrichenen Verhandlungssaal des Provinzgerichts der 100 000-Einwohner-Stadt Nigde hing.
Am Donnerstag wurde dort wieder verhandelt – und wieder waren die Angeklagten nicht persönlich anwesend bei diesem ersten und bisher einzigen Gerichtsprozess um IS-Terroranschläge in der Türkei. Sicherheitsbedenken seien der Grund, hatte das Justizministerium in Ankara mehrfach erklärt. Die vier sitzen in einem Hochsicherheitsgefängnis der Hauptstadt – ihr Transport nach Nigde sei zu gefährlich, heisst es. Man befürchtet wohl, dass sie unterwegs von Gesinnungsgenossen befreit werden könnten.
Logistik eines Anschlags
Ausser Cendrim R. waren auf dem Bildschirm seine zwei Komplizen zu sehen, der Berliner Halbchinese Benjamin X.* (26) und der Mazedonier Muhammad Z.* (21). Sie hatten sich wie R. in Syrien dem IS angeschlossen. Die Staatsanwaltschaft fordert für alle drei lebenslange Haftstrafen wegen mehrfachen Mordes.
Rechts von Cendrim R. hatte Fuat M.* (41) Platz genommen, ein kräftiger Aserbaidschaner mit gestutztem Vollbart, als Mittäter beschuldigt. Der Mann soll die Logistik für einen Terroranschlag bereitgestellt haben, den Cendrim R. und seine Komplizen laut Anklage mit den mitgeführten Waffen in Istanbul planten. Während die anderen Männer nur stumm da sassen, erklärte Fuat M. immerhin: «Ich habe nichts zu sagen.»
Zuschauer vom Geheimdienst?
Weil bei der Schiesserei nahe Nigde auch ein Soldat und ein Polizist starben, gilt der Prozess als politisch hoch sensibel. Auf den wenigen Zuschauerplätzen hatten vor allem drahtige Männer Platz genommen, die offenbar zum türkischen Geheimdienst MIT gehörten. Umso merkwürdiger, dass nur drei oder vier türkische Medien die Verhandlung beobachteten.
Das mangelnde öffentliche Interesse ist nicht die einzige Merkwürdigkeit in diesem Verfahren, das als Präzedenzfall für die juristische Aufarbeitung von IS-Verbrechen in der Türkei gilt. Fünf Richter wurden ausgewechselt, wichtige Zeugen nicht vorgeladen und ein Verhandlungstermin wegen der «heiklen Situation» einer nahenden Parlamentswahl gestrichen.
Seltsame Scheu der türkischen Justiz
Keine guten Vorzeichen für den Berg an Terrorismusverfahren, den die türkische Justiz vor sich herschiebt: Im vergangenen Jahr wurden weit mehr als tausend mutmassliche IS-Mitglieder im Land festgenommen, viele sitzen im Gefängnis und warten auf ihre Prozesse. Doch die bei Verfahren gegen Kurden und kritische Pressevertreter eilfertige Justiz legt eine auffällige Scheu an den Tag, Islamisten anzuklagen – vielleicht weil dann Einzelheiten über die Kooperation der Regierung mit Dschihadisten publik werden könnten. So vermuten es zumindest oppositionelle türkische Medien. In Nigde sollten diese Woche eigentlich die Plädoyers der Staatsanwaltschaft und der vom Gericht bestellten Pflichtverteidiger erfolgen. Doch dann wurde der Prozess nach halbstündiger Verhandlung erneut vertagt. Zuvor verlas der vorsitzende Richter medizinische Gutachten, in denen die teils schweren Verletzungen von 13 Opfern der Schiesserei an der Schnellstrasse E-90 beschrieben wurden. Dann erklärte er, dass noch Gutachten fehlten – und beim nächsten Verhandlungstermin am 11. Mai behandelt werden sollen.
«In diesem Prozess ist nichts normal», sagte der Nebenklage-Anwalt Ali Cil aus Ankara, der die Angehörigen des bei der Schiesserei getöteten Lastwagenfahrers Turan Yasar vertritt. «Sowohl die Zeugen wie die Angeklagten erscheinen nicht persönlich vor Gericht. Richter werden ausgewechselt. Andere Angeklagte sind verschwunden. Das alles ist eigentlich nicht akzeptabel. Aber so geht es jetzt zu in der Türkei.»
Mit dem gestrigen Anschlag in Istanbul erhielt der Prozess in Nigde beängstigende Aktualität.