Was haben wir die Franzosen doch beneidet. Mit dem Citroën DS bauten sie das schönste Auto, mit der Concorde das schnellste Flugzeug, mit dem TGV die modernste Eisenbahn. Und die besten Filme, die klügsten Denker und elegantesten Frauen hatten sie ohnehin.
Heute wird Frankreich belächelt. Ein grossartiges Land, um Ferien zu machen. Die Uhren drehen langsamer als anderswo, der Zerfall hat seinen Charme. Ein Freilichtmuseum mit Schlössern, pittoresken Dörfern und grossartigem Essen. Doch dort leben? Lieber nicht.
Die eigene Grösse wurde Frankreich zum Verhängnis
Den Franzosen geht es genauso. «Die besten Köpfe verlassen das Land», sagt Stéphane Garelli (65), Wirtschaftprofessor an der Managementschmiede IMD in Lausanne. Sie gehen nach London, New York oder Genf und gründen dort Unternehmen, weil sie sich nicht mit der einheimischen Bürokratie herumschlagen wollen.
Garelli hat den Abstieg Frankreichs hautnah verfolgt. Im Wettbewerbsfähigkeits-Ranking des IMD fiel das Land aus den Top 30 heraus. «Dabei müsste Frankreich viel besser da stehen. Das Potenzial ist enorm.»
Frankreich ist die sechstgrösste Wirtschaft der Welt und die Nummer 3 in Europa. Doch es war die eigene Grösse, die Frankreich zum Verhängnis wurde. Die Firmen produzierten für den eigenen Markt, der Export kümmerte sie nicht. «Als die Grenzen mit der Globalisierung fielen, kamen sie unter die Räder», sagt Garelli.
Aufgeblähter Staat
Zu behaupten wussten sich nur die ganz Grossen und die ganz Kleinen. Multis wie der Luxusgüterkonzern LVMH, die Rüstungschmiede Dassault oder der Bauriese Bouygues sind Weltklasse. Das Problem seien die Firmen dazwischen, sagt Garelli: «Der Mittelstand existiert nicht. Das ist der grosse Unterschied zur Schweiz und zu Deutschland.»
In der Not schottete sich Frankreich noch mehr ab. Die Regierung versuchte, die eigenen Firmen zu schützen und blähte den Staat auf. Dadurch explodierten die Schulden. 1974 war das letzte Jahr, in dem Frankreich ein ausgeglichenes Budget hatte. Dennoch verewigten sich die Präsidenten, allen voran François Mitterrand (†79), mit Prestigebauten.
Schuld waren immer die anderen
Lionel Jospin (79), wie Mitterrand ein Sozialist, redete den Leuten ein, sie müssten weniger arbeiten, damit für alle etwas bleibe, und führte die 35-Stunden-Woche ein. Im Schnitt arbeiten die Franzosen heute sechs Wochen weniger als die Schweizer. «Jene, die arbeiten, sind zwar hoch produktiv», sagt Garelli. «Doch die Franzosen arbeiten zu wenig, und zu wenige Franzosen arbeiten.» Der Sozialstaat lasse sich so nicht finanzieren.
Lange reagierte das Land defensiv auf den Niedergang. Schuld waren immer die anderen: der Neoliberalismus, die Angelsachsen, die allgemeine Krise. Jede Reform wurde von militanten Gewerkschaften blockiert. Das eigene Modell blieb unantastbar. «Jetzt hat das Pendel in das andere Extrem gedreht», sagt Garelli. «Heute wird alles schlechtgeredet, was ebenso gefährlich ist wie die Verleugnung.»
Marine Le Pen würde den Niedergang besiegeln
Das zeigt sich bei den Präsidentschaftswahlen. Die Kandidaten der etablierten Parteien sind in den Umfragen weit abgeschlagen. Dem Unabhängigen Emmanuel Macron (39) traut Garelli am ehesten zu, das Steuer herumzureissen. «Er steht in der Tradition der deutschen Sozialdemokraten, hat ein soziales Gewissen, verfolgt aber marktwirtschaftliche Reformen.»
Mit Marine Le Pen (48) als Präsidentin würde der Niedergang hingegen besiegelt. Die Chefin des Front National will den Euro aufgeben und den Franc wieder einführen. Dabei unterschlägt sie, dass die Schulden in Euro blieben, der Franc aber viel weniger wert wäre. «Eine Abwertung um 25 Prozent wäre das Minimum», sagt Garelli. «Frankreich würde unter der Schuldenlast kollabieren.»