Die Lage im Atlasgebirge ist verzweifelt. Noch immer graben die Menschen teils mit blossen Händen Verschüttete aus den Trümmern. Nahezu 2900 Tote wurden bislang geborgen, über 2500 Personen sind verletzt. Und die Opferzahl wird steigen. Denn drei Tage nach dem Jahrhundertbeben im Südwesten Marokkos schwinden die Chancen, noch Überlebende zu finden, gegen null. Mit ein Grund der Tragödie: Die Rettung kommt schleppend voran. Es fehlt an Einsatzteams, an Suchhunden, an technischem Gerät – und an einer klaren Ansage des Herrschers, König Mohammed VI. (60).
Sofort nach der Katastrophe boten bereits 60 Länder weltweit ihre Hilfe an. Darunter Frankreich, Deutschland, die Schweiz, Italien, Israel, die Türkei und die USA. Doch der Monarch reagierte erst 36 Stunden nach dem Beben. Nicht persönlich, sondern über eine schriftliche Erklärung.
Mohammed VI. befindet sich zum Zeitpunkt der Katastrophe in seiner Prunkresidenz in Paris. Er zeigt sich seinem vom Beben geschundenen Volk zunächst nicht, hat keine tröstenden Worte. Erst am Dienstag tauchen Bilder von Mohammed VI. auf, wie er ein Spital in Marrakesch besucht. Laut der Nachrichtenagentur MAP habe er dort Blut gespendet.
Internationale Hilfe ist offenbar nicht erwünscht. Marokko will seine Not grösstenteils alleine lindern.
Nur vier Länder dürfen Marokko helfen
Erst am Sonntag gab es grünes Licht für Rettungsmannschaften aus nur vier Ländern. Spanien und Grossbritannien dürfen Suchtrupps und Hundestaffeln einsetzen, das befreundete Katar liefert Hilfsgüter und die Vereinigten Emirate errichten eine Luftbrücke. Während die Menschen unter den Trümmern sterben, fragt sich die Welt: Warum zögert der König? Ist das Land zu stolz, um Hilfe anzunehmen? Spielt der Westsahara-Konflikt eine Rolle?
«Marokko will der Welt zeigen, dass es kein Drittweltland ist, das massiv ausländische Hilfe benötigt», sagt Riccardo Fabiani, Projektleiter für Nordafrika beim Thinktank Crisis Group, gegenüber dem «Handelsblatt». Anfang Oktober findet zudem die Jahrestagung von Weltbank und Internationalem Währungsfonds in Marrakesch statt. Die mögliche Botschaft des Gastgebers: Marokko hat alles im Griff.
Westsahara-Konflikt sorgt für politischen Groll
Doch auch ein gewisser politischer Groll könnte hinter der ablehnenden Haltung stecken. Seit 45 Jahren beansprucht Marokko die Westsahara, die zuvor spanisches Kolonialgebiet war. Während die Uno und Mitgliedsstaaten wie Frankreich, Deutschland und auch die Schweiz die Annexion durch Marokko strikt ablehnen, lenkte Spanien kürzlich ein. Auch Grossbritannien gewann Sympathien mit dem weltweiten Aufruf zum «strategischen Dialog» zur Konfliktlösung und mit handfesten Projekten im umstrittenen Gebiet.
Frankreichs Innenminister hingegen nimmt den Monarchen in Schutz. Marokko verfüge über einen guten Zivilschutz und sei in der Lage, der Situation selber Herr zu werden, so Gérald Darmanin gegenüber Medien. Dies ist auch das Argument von Rabat. Die Regierung dankte in der Erklärung den vielen Staaten für ihre Hilfsbereitschaft und ihre Anteilnahme. Aber man wolle erst prüfen, wie und wo Marokko internationale Rettungseinheiten einsetzen könne, um eine gut koordinierte Zusammenarbeit zu gewährleisten.