Der Campo Santo Teutonico, wie der Friedhof auf Italienisch heisst, ist eine kleine quadratische Oase der Stille, auf dem verstorbene Geistliche und Fürsten aus dem deutschsprachigen und flämischen Raum liegen. In diesen Tagen allerdings ist der Zugang verwehrt: Die Schweizergarde weist Besucher zurück mit den Worten «Es finden Bauarbeiten statt.»
Bauarbeiten? Genauer gesagt, sind es Grabarbeiten. Denn heute Donnerstag wurden zwei Gräber geöffnet, in der Hoffnung, die Gebeine von Emanuela Orlandi zu finden. Die Tochter eines Hofdieners des Vatikans wird seit dem 22. Juni 1983 vermisst. Das damals 15-jährige Mädchen war auf dem Weg vom Musikunterricht nach Hause spurlos verschwunden.
Dann die Ernüchterung: In den Gräbern wurden keine Hinweise auf Emanuela Orlandi gefunden.
Sexpartys? Erpressung?
Zwei Freundinnen, mit denen das Mädchen in einen überfüllten Bus einsteigen wollte, waren die letzten Bekannten, die sie gesehen haben. Laut Pino Nicotri, der ein Buch über den Fall geschrieben hat, soll sie zu ihren Freundinnen gesagt haben: «Ich nehme den nächsten Bus, oder ich gehe zu Fuss zur Piazza di Torre Argentina, das sind 500 Meter. Oder ich nehme den 64er.» Dieser hätte sie zum Eingang des Vatikans bei der Porta Sant’Anna gebracht, wo die Familie Orlandi wohnte. Da allerdings ist sie nie angekommen.
Seither jagen sich die wildesten Gerüchte. Es hiess, Emanuela habe im Vatikan Sexpartys beobachtet und sei daher zum Schweigen gebracht worden, andere Leute behaupteten, Kriminelle wollten mit ihrer Entführung den türkischen Papst-Attentäter Mehmet Ali Agca (61) freipressen. Aufzeichnungen von Anrufen, die von Entführern oder Trittbrettfahrern stammen könnten, hält der Vatikan bisher geheim.
Auf der Suche nach dem Mädchen wurde sogar das Grab des Mafiabosses Enrico De Pedis (65) in der Kirche Sant’Apollinare in Rom geöffnet. Man fand nichts. Im vergangenen Herbst wurden bei einer vatikanischen Botschaft in Rom Knochen entdeckt. Sie stammten jedoch aus antiker Zeit.
Hinweis auf den Friedhof
Nun wurde auch die Hoffnung der Familie Orlandi, das Rätsel über das Verschwinden des Mädchens bei den jüngsten Grabarbeiten zu lösen, erstickt. Eine Anwältin der Familie hatte im vergangenen Sommer einen anonymen Brief mit einem mysteriösen Hinweis auf eine Marmorstatue auf dem deutschen Friedhof erhalten. Darin stand: «Schaut, wohin der Engel schaut.»
In den beiden Gräbern vor der Statue waren vor über 150 Jahren zwei adlige deutsche Frauen bestattet worden: Sophie von Hohenlohe (gestorben 1836) und Herzogin Charlotte Friederike zu Mecklenburg (1840).
Bei der Graböffnung waren Familienangehörige von Emanuela Orlandi sowie der Bestatteten dabei. Emanuelas Bruder Pietro, der seit 36 Jahren für die Aufklärung des Falles kämpft sagt: «Es ist ein neues Kapitel. 36 Jahre lang hat es im Vatikan keinerlei Kooperation gegeben.» (gf)