Würde man ihr länger zuhören, finge sie wohl an zu weinen. «Schwierig ist das Leben drüben», sagt die Frau, «schwierig.» Sie steht an der Simón-Bolívar-Brücke in der Grenzstadt Cúcuta. Auf der anderen Seite: Venezuela. Auf dieser Seite: Kolumbien. Neben der Frau: die Container mit Logos von Organisationen, die überall dort auftauchen, wo eigentlich niemand sein möchte. Sie bieten erste Hilfe an, einen geschützten Raum für Kinder, psychologische Betreuung.
Unter ihnen ist auch das Logo der Weltflüchtlingsorganisation UNHCR, deren Vertreter das Ausmass der venezolanischen Migrationskrise inzwischen mit jenem von Syrien vergleichen. Über vier Millionen Venezolaner haben in den letzten Jahren ihr Land verlassen, 1,4 Millionen von ihnen in Richtung Kolumbien. Manche mit einem klaren Ziel vor Augen. Andere nur mit der Not im Rücken. Unbezahlbare Nahrungsmittel, kaum verfügbare Medikamente, eine autoritäre Regierung: Die Situation in Venezuela ist katastrophal. Man nennt die Simón Bolívar auch «die Brücke der Verzweiflung».
Die Venezolaner machen in Kolumbien alles, was Geld abwirft
Bis zu 50'000 Menschen strömen täglich über die Brücke. Die meisten von ihnen reihen sich in der Schlange für Venezolaner ein, überqueren die Simón Bolívar zweimal. Morgens, um zur Arbeit zu gehen. Abends, um heimzukehren. Dazwischen beschäftigen sie sich mit allem, was in der
Unter Nicolás Maduro, seit 2013 Präsident, schlitterte Venezuela in eine wirtschaftliche und humanitäre Krise. Die Inflationsrate lag zuletzt bei über einer Million Prozent. Viele Nahrungsmittel sind unbezahlbar, Medikamente kaum verfügbar. Dazu kommt: Venezuela hat eine der höchsten Mordraten der Welt. Allein in der Hauptstadt Caracas wurden vergangenes Jahr fast 3000 Menschen umgebracht. Die Polizei tötete im gleichen Zeitraum landesweit zwischen 5300 und 7500 weitere.
Über vier Millionen Venezolaner haben seit Beginn der Krise das Land verlassen. 1,4 Millionen von ihnen sind in Kolumbien. Die UNHCR vergleicht das Ausmass der Migrationskrise um Venezuela inzwischen mit jener in Syrien.
Steve Ellner, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler in Caracas, sieht eine Mischung aus vier Dingen als Ursache für die Krise des Landes:
Bereits Maduros Vorgänger Hugo Chávez schreckte mit seiner Politik finanzstarke Unternehmen ab. Die sinkenden Ölpreise dämpften die Einnahmen des von Erdöl abhängigen Staates. Die USA sprachen rasch wirtschaftliche Sanktionen aus und unterstützen die venezolanische Opposition. Zudem regiert Präsident Maduro mit politischem Unvermögen und autoritärer Hand.
Unter Nicolás Maduro, seit 2013 Präsident, schlitterte Venezuela in eine wirtschaftliche und humanitäre Krise. Die Inflationsrate lag zuletzt bei über einer Million Prozent. Viele Nahrungsmittel sind unbezahlbar, Medikamente kaum verfügbar. Dazu kommt: Venezuela hat eine der höchsten Mordraten der Welt. Allein in der Hauptstadt Caracas wurden vergangenes Jahr fast 3000 Menschen umgebracht. Die Polizei tötete im gleichen Zeitraum landesweit zwischen 5300 und 7500 weitere.
Über vier Millionen Venezolaner haben seit Beginn der Krise das Land verlassen. 1,4 Millionen von ihnen sind in Kolumbien. Die UNHCR vergleicht das Ausmass der Migrationskrise um Venezuela inzwischen mit jener in Syrien.
Steve Ellner, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler in Caracas, sieht eine Mischung aus vier Dingen als Ursache für die Krise des Landes:
Bereits Maduros Vorgänger Hugo Chávez schreckte mit seiner Politik finanzstarke Unternehmen ab. Die sinkenden Ölpreise dämpften die Einnahmen des von Erdöl abhängigen Staates. Die USA sprachen rasch wirtschaftliche Sanktionen aus und unterstützen die venezolanische Opposition. Zudem regiert Präsident Maduro mit politischem Unvermögen und autoritärer Hand.
kolumbianischen Region mit 18 Prozent Arbeitslosigkeit noch Geld abwerfen kann. Strassenverkäuferinnen preisen Süssgetränke, Essen oder aus wertlos gewordenen Banknoten geflochtene Skulpturen an. Schmuggler tragen auf ihren Schultern Nahrungsmittel, Kühlschränke oder Autoreifen über die von Paramilitärs kontrollierten illegalen Grenzübergänge. Manche Frauen verkaufen für ein paar Franken ihre Haare für Extensions, andere ihren Körper für weniger.
Auf der kolumbianischen Seite, fünf Gehminuten von der Brücke entfernt, kümmert sich Luis Muñoz (54), seit 36 Jahren Barbier, seit neun Monaten in Cúcuta, um die Bartkonturen eines Kunden. «Es ist hart, neben dem Platz mit den Obdachlosen zu leben», sagt er. Nicht weil ihm die Menschen grundsätzlich unsympathisch sind. Es ist das Elend seiner Landsleute, das ihn beelendet.
4000 Portionen Reis und Bohnen pro Tag – und es reicht oft trotzdem nicht
Abends holen auf dem Platz, der früher zum Fussballspielen genutzt wurde, Menschen ihre Matten und Kartons aus den Bäumen. Sie legen diese auf den Boden und versuchen, Schlaf zu finden, wo jede Minute Unaufmerksamkeit einer Minute Gefahr entspricht. Sie liegen wach, denken an diese Geschichten, die manche erlebt haben. Andere nur gehört. Die Geschichten von den Menschen, die hier, auf diesem Platz, mit Steinen im Schlaf erschlagen wurden. Von Kindern, die hier, auf diesem Platz, am Abend eingeschlafen und am Morgen bei ihren Entführern aufgewacht sind. Einige Stunden nach Sonnenaufgang stehen hier Hunderte Männer und warten. Sie warten, bis die Frauen und Kinder an der Reihe waren, sich eine der 4000 Portionen Reis, Bohnen und Poulet bei der Notküche zu holen.
«Alle haben gesagt, das Leben in Kolumbien sei angenehm», sagt der Barbier. «Aber das stimmt nicht.» Im Dezember wird er deshalb wieder in den Norden Venezuelas zurückkehren. Dorthin, wo er seinen Beruf erlernt hat. Wo er ein Haus und ein Geschäft zurückgelassen hat. «Ich helfe, wo ich kann», sagt er. Er gibt den Menschen vor seiner Wohnung Wasser, offeriert Rabatte. Mehr tun, das kann er nicht. Luis Muñoz’ Aufgabe ist es nicht, die Welt zu retten. Seine Aufgabe ist es, Haare zu schneiden.
Noch nimmt die kolumbianische Politik die Venezolaner in Schutz
Iván Duque, der konservative Präsident Kolumbiens, bleibt seiner Linie treu: Kolumbien muss sich brüderlich mit den Venezolanern zeigen, wie sich diese jahrzehntelang brüderlich gezeigt haben, als Kolumbien im Konflikt mit der Guerillaarmee Farc stand. Während die Nachbarstaaten ihre Grenzen immer mehr abriegeln, bleibt die kolumbianisch-venezolanische offen. Zu kontrollieren wäre sie so oder so nicht. Auf der 2219 Kilometer langen Grenze gibt es Hunderte illegale Übergänge. Die kolumbianische Bevölkerung wird zunehmend ungeduldig. 34 Prozent der Bewohner waren gemäss einer Umfrage im Februar unzufrieden damit, wie Duques Regierung die Migrationskrise handhabt. Im Juli waren es bereits 56 Prozent.
Nur noch eine Gitarre bleibt übrig
Seit drei Tagen ist Freydavid Morales, 23-jährig, um den Hals ein goldenes Kreuz, in seinen Händen eine Gitarre, unterwegs. Zielstrebig kam er hierher, zu Fuss zum ersten Zentrum des Roten Kreuzes wenige Kilometer südlich von Cúcuta. An der Grenze bekam seine Ehefrau Yusmari Hernandez Probleme, weil sie keine Identitätskarte hat. Nach der Grenze, in Cúcuta, wurde ihnen alles gestohlen, bis auf die Kleidung an ihrem Körper, das Kreuz um seinen Hals, die Gitarre in seinen Händen und den Rucksack auf dem Rücken seiner 18-jährigen Ehefrau.
«Eigentlich wollten wir nach Ecuador», sagt er. Aber sie hätten gehört, dass für Menschen, die kein humanitäres Visum bekommen, die Grenze geschlossen sei. Das nächste Ziel heisst darum: Málaga. Danach: Arbeit finden. Nicht unbedingt als Grafikdesigner, womit Freydavid Morales in Venezuela sein Geld verdient hatte. Er könne alles lernen, was man mit den Händen macht. Als Erstes wird er aber die Gitarre verkaufen. «Manche Leute wollen in Kolumbien bloss Hilfe bekommen», sagt er. «Das kann ich nicht verstehen.» Jeder habe die Möglichkeit, etwas aus sich zu machen.
Rund 400 Menschen tun es laut offiziellen Angaben Freydavid Morales und Yusmari Hernandez jeden Tag gleich. Sie ziehen zu Fuss los, von Cúcuta aus in Richtung Landesinneres. Bis zu zwei Wochen dauern ihre Fussmärsche. Unter ihnen sind immer mehr Minderjährige, auch solche, die allein unterwegs sind. Für viele führt der Weg über den Pass von Berlin mit Temperaturen von bis zu null Grad.
Freydavid Morales und Yusmari Hernandez gehören zur dritten, vielleicht sogar schon vierten Welle venezolanischer Flüchtlinge seit Beginn der Krise. Experten sprechen von «gefährdeten Bevölkerungsgruppen». Jene, die Beziehungen, sichere Jobs und international anerkannte Ausbildungen haben, haben Venezuela grösstenteils längst verlassen.
Das Ankommen in Bogotá ist hart
Migdalia Mendoza, 40 Jahre alt, ist nur mit ein paar Kleidern und ihren Papieren in Bogotá angekommen. Der Rest wurde ihr im knapp 400 Kilometer entfernten Cúcuta gestohlen. «Von anderen Venezolanern», sagt sie. «In diesem Moment entschied ich, zu Fuss nach Bogotá zu gehen.» Seit ihrer Ankunft vor drei Monaten schläft sie in einer Nische bei der Kirche am Busbahnhof. «Die Kälte macht mir zu schaffen», sagt sie.
Immer wieder verjagt die Polizei die Obdachlosen bei der Kirche. Dann lassen Migdalia Mendoza und die anderen ihren Schlafplatz hinter sich. Warten, bis die Beamten weg sind. Kehren zurück und legen sich wieder unter die Decken, die sie meist von Kolumbianern geschenkt bekommen haben. An der Fassade hinter ihnen prangt die Aufschrift «Tritt durch diese heilige Tür und du wirst Barmherzigkeit empfangen». In der Kirche schlafen durfte Migdalia Mendoza bislang nie, genauso wenig wie das Kind, das sich neben ihr im T-Shirt schlafen legt. Noch immer glaubt Migdalia Mendoza an Gott, und daran, dass es Venezuela bald besser gehen wird.
Auch privilegierte Venezolaner flüchten
«Das Leben in Bogotá ist gut», sagt Manuel Aponte, 29 Jahre, Field Service Engineer beim Pharmaunternehmen Roche mit Hauptsitz in Basel. «Wir können alles machen, was wir vor der Krise in Caracas machen konnten.» Seit einigen Monaten wohnt er hier, im neunten Stock eines Stadtviertels, von dessen Balkonen man auf die Lichter der Hochhäuser im Zentrum der weitläufigen Sieben-Millionen-Metropole sieht. Er hat Venezuela später verlassen als viele andere mit seiner Ausbildung, seinem beruflichen Status. «Das Essen in Caracas wurde unbezahlbar», sagt er, «und auch die Schule für die Kinder immer teurer.» Die Musikbox, die neben dem Fernseher in seinem Wohnzimmer steht, hat er seit seiner Jugend immer bei sich. Sie kam, wie die anderen Dinge in der Wohnung, beim von Roche bezahlten Umzug nach Bogotá. Manuel Aponte besuchen kann nur, wer am Empfang des Wohnhauses den vollständigen Namen und die Passnummer angibt.
Er wisse, dass Venezolaner angefeindet würden, sagt der Roche-Angestellte. Aber er selbst habe zum Glück noch keine solche Erfahrung machen müssen.
«Wir wollen euch nicht hier haben, ihr seid eine Plage», hört hingegen Migdalia Mendoza immer wieder. Sie könne es verstehen, schliesslich gebe es auch Venezolaner, die sich wirklich daneben benommen hätten. Offizielle Stellen sprechen von medial aufgebauschten Einzelfällen, von ungerechtfertigten Generalisierungen, von Fremdenfeindlichkeit. Migdalia Mendoza davon, dass sie als Venezolaner auch an sich selbst arbeiten müssten. «Das habe ich erst realisiert, als ich hier war», sagt sie und betont, dass sie bisher nie tätlich angegangen wurde. Immer nur verbal. Anders erging es einem Mann, der vor gut einem Jahr wegen Gerüchten über Kindesentführungen durch Venezolaner in einem Vorort Bogotás zu Tode geprügelt wurde.
Venezuela könnte bis Ende 2020 der grösste Migrationskrisenherd der Welt sein
«Nach Venezuela zurück möchte ich nicht», sagt die gelernte Schneiderin Mendoza. Von Bogotá aus könne sie mehr für ihre Kinder tun, die dort geblieben sind. Sie habe bereits einige Bewerbungsgespräche gehabt. Aber ihr fehle, wie fast jedem zweiten Venezolaner in Kolumbien, eine Arbeitsbewilligung. Sie wird wohl weiterhin in einer Nische bei der Kirche schlafen, mit der Kälte kämpfen, der Polizei aus dem Weg gehen und Geld verdienen, wo es illegal Geld zu verdienen gibt.
Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) schätzt, dass sich bis Ende 2020 die Migration aus Venezuela verdoppeln könnte – auf acht Millionen Menschen. Das wäre die grösste Migrationskrise der Welt.
Dieser Artikel wurde finanziell durch den Medienfonds ‹real21 – die Welt verstehen› unterstützt.