Auf einen Blick
Einmal die Woche setzt sich Steve Rice (72) in den gepolsterten Stuhl, lehnt den Kopf zurück und lässt sich in Leroy’s Barbershop die krausen Locken stutzen. «Leroy schneidet meine Haare genau so, wie ich sie mag», sagt der pensionierte Stadtangestellte und erklärt, dass er deshalb hier sei.
Leroy Robinson Jr. (67) und sein Friseursalon sind Institutionen in Philadelphia. Seit 53 Jahren schneidet der kräftige Mann Haare. Mit 13 Jahren hat er im Laden seines Vaters angefangen und bis heute nicht aufgehört – weil er es gerne macht. Und weil der Barber Shop eine zentrale Rolle im Leben der Afroamerikaner spielt. «Hey, als Barbier bist du die Stütze der Gesellschaft, du hilfst, wo du kannst», erklärt Robinson, der schon so manches wilde Kind von der Strasse geholt und ihm einen Job verschafft hat. Blick hat sich vor Ort umgehört. Und der Barber-Kundschaft die alles entscheidende Frage gestellt: Harris oder Trump?
Bevor der Fotograf ihn ablichten darf, kämmt Robinson seinen grauen Bart. Schliesslich will er gut aussehen. «Als Barbier bist du ein Vater für viele Kinder, die keinen Vater haben», sagt er. In der afroamerikanischen Gesellschaft ist der Barber Shop ein Ort, an dem schwarze Männer palavern – über Sport, Geschäfte und vor allem über Politik.
Obamas Kritik
Sowohl Robinson als auch Rice unterstützen die demokratische Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris (60) – wie die meisten Schwarzen in Amerika. Allerdings, so zeigen Umfragen, weniger geschlossen als bei Hillary Clinton (77) vor acht Jahren oder Barack Obama (63) vor 16 Jahren.
Weil afroamerikanische Männer die Vizepräsidentin nicht bedingungslos unterstützen, kritisierte sie ausgerechnet Ex-Präsident Obama. Dieser wiederum erntete einen Sturm der Entrüstung, weil er schwarze Männer dazu aufgefordert habe, wie eine Herde wählen zu müssen.
Friseur Robinson stimmt Obama zu. «Schwarze Männer müssen verdammt noch mal ihren Mann stehen. Wenn Obama jemanden verletzt hat – gut! Dann sind deine Gefühle eben verletzt.» Sein Rezept gegen verletzte Gefühle: «Geht wählen, damit ihr das nicht mehr hören müsst.»
Die Anziehungskraft von Trump auf junge schwarze Männer
Robinson versteht die Anziehungskraft, die Trump auf junge schwarze Männer ausübt. «Jeder fühlt sich zu Geld hingezogen», sagt er. «Das ist ein natürliches Phänomen.» Unter Trump hätten einige kurzfristig mehr Geld in der Tasche gehabt, das Leben sei billiger gewesen. «Aber Harris bietet langfristige Perspektiven», betont er.
Während Robinson ihm die Haare schneidet, erklärt Steve Rice, dass alle seine Freunde Kamala Harris unterstützen. Er selbst habe frühzeitig gewählt. Nie im Leben habe er eine Wahl verpasst, nie würde er nicht wählen. «Hey, ich bin in den 1960er-Jahren aufgewachsen und habe in der Bürgerrechtsbewegung für das Wahlrecht gekämpft.» Fotos an der Wand des Friseursalons zeigen den Boxer Muhammad Ali und die Bürgerrechtsikone Malcolm X. Sie erinnern an diese Zeit.
Lese- und Schreibtests für schwarze Wähler
Erst seit dem Voting Rights Act von 1965 sind in den USA alle Formen der Diskriminierung bei Wahlen verboten. Zuvor hatten einige Bundesstaaten Lese- und Schreibtests eingeführt, um Schwarze gezielt von den Urnen fernzuhalten. «Jetzt geht es darum, wieder Geschichte zu schreiben», sagt Rice. «Eine Frau ins Weisse Haus zu bringen – die erste schwarze Frau.»
Weder Rice noch Robinson haben je woanders gelebt als in Philadelphia, der «Stadt der brüderlichen Liebe». Die Metropole spielt in diesem Wahljahr eine Schlüsselrolle: In keinem anderen Teil Pennsylvanias leben mehr Menschen. Und wer Pennsylvania gewinnt, zieht am 20. Januar 2025 wohl ins Weisse Haus ein.
Bis zum Wahltag am kommenden Dienstag machen Rice und Robinson Wahlkampf. Robinson klopft an Türen, spricht mit seinen Kunden und versucht, sie zum Wählen zu motivieren. «Niemand will zurück in dunkle Zeiten», sagt er. «Wir brauchen Einheit, keine Spaltung.»
Es ist kurz nach 18 Uhr, eigentlich Zeit, den Laden zu schliessen. Genau in diesem Moment betritt Dawn Whitt (57) den Friseursalon. Sie ist im Süden Philadelphias aufgewachsen, arbeitet bei Honda – und hat einen schlechten Tag.
Deshalb ist sie hier. «Leroy sorgt dafür, dass ich mich gut fühle, wenn ich rausgehe – äusserlich und innerlich. Er macht einen dunklen Tag hell», sagt sie.
«Ein Vorbild für meine Töchter»
Wegen des näher rückenden Wahltags sei sie «extrem aufgeregt», sagt Whitt. «Es gibt zu viel Hass und Unruhe da draussen, das können wir nicht gebrauchen. Frau Harris wird das stoppen.» Sie wählt die Demokratin aus persönlichen Gründen. «Wie sie bin ich eine schwarze Frau. Meine beiden Töchter sollen sehen, dass sie alles erreichen können.»
Obamas Kritik an schwarzen Männern nimmt Whitt gelassen. «Hey, jeder kann sagen, was er will. Und manche Typen müssen die Wahrheit hören, auch wenn sie schmerzt.»