Der erste Abend des Parteikonvents der Demokraten in Chicago war eigentlich für US-Präsident Joe Biden (81) reserviert. Doch eine Frau stahl ihm die Show: Die ehemalige US-Aussenministerin Hillary Clinton (76) begeisterte beim Parteitag der Demokraten mit einer umjubelten Rede.
Als sie im hellen Hosenanzug die Bühne des United Center in Chicago betrat, erhoben sich 25'000 Menschen von ihren Sitzen und applaudierten minutenlang. «In diesem Saal ist viel Energie, genau wie im ganzen Land», begann die ehemalige First Lady. «In Amerika passiert etwas, das kann man spüren. Etwas, wofür wir lange gearbeitet und wovon wir lange geträumt haben.»
Was sie meint: Gut möglich, dass im Januar erstmals eine Frau nicht nur im Weissen Haus wohnen, sondern von dort aus auch die USA regieren wird.
Elegant führte Hillary Clinton durch die Geschichte der politischen Rechte von Frauen in Amerika. Sie begann vor 104 Jahren, als Frauen das Wahlrecht erhielten, und endete 2016, als sie die erste Präsidentschaftskandidatin einer der staatstragenden Parteien war.
Sie verlor gegen Donald Trump (78). Die Niederlage scheint sie noch immer zu schmerzen. Umso lauter rief sie in Chicago dazu auf, Kamala Harris zu unterstützen. «Um ihn zu schlagen, müssen wir härter arbeiten als je zuvor», sagte Clinton. «Die Zukunft ist hier. Lasst sie uns gewinnen.»
Hillary Clinton wirkte selbstbewusst, entspannt – und hob sich von den mittelmässigen Rednern des Abends ab. Manch einer im Stadion mag sich gefragt haben, ob sie nicht die effektivere Kandidatin gewesen wäre als Harris.
Biden sprach nach der Primetime
Es war schon nach der Primetime an der US-Ostküste, als First Lady Jill Biden (73) ihren Mann vorstellte; viele Fernsehzuschauer waren schon im Bett. «Joe und ich sind seit fast 50 Jahren zusammen, und ich verliebe mich immer noch jeden Tag in ihn», sagt sie. Vor einigen Wochen habe Joe tief in seine Seele geschaut und entschieden, nicht mehr zu kandidieren und stattdessen Harris zur Wahl zu empfehlen.
Seine Tochter Ashley Biden (43) nannte ihn «den Papa einer Tochter» und «besten Freund». Dann, um 22.26 Uhr, betrat Biden die Bühne, umarmte seine Tochter und genoss das Bad in der Menge. Mit einer etwas zu lange geratenen Rede verabschiedete er sich nach mehr als 50 Jahren in verschiedenen Ämtern, als Senator, Vizepräsident und zuletzt als Präsident. Es ging ihm darum, nochmals alles aufzuzählen, was er als Präsident erreicht hatte. Als wollte er sagen: Mit diesem Leistungsausweis trete ich jetzt ab.
Biden reckte die Faust in den Himmel, als wolle er sagen: Ich habe noch Kraft. Er blickte in die Menge, die Augen etwas leer, als die Menge «Danke Joe, danke Joe» skandierte. Als wolle er sagen: Ich hätte die Wahl bestimmt durchgehalten. «I love you», waren seine ersten Worte, die er an die Menge im Saal richtete. Und er liebe seine Frau mehr als sie ihn. Er rief zur Unterstützung von Kamala Harris auf, betonte, dass er Trump geschlagen und immer der Verfassung gedient habe.
Er blickte auf seine vier Jahre als Präsident zurück, betonte, was er erreicht habe, dass er die Demokratie bewahrt, Corona besiegt und die Wirtschaft der USA gestärkt habe. Er verurteilte den Rassismus in den USA, kritisierte Trump als «Verlierer», als einer, der «es nicht Wert ist, Oberbefehlshaber der US-Armee zu sein».
Rede erinnert an eine Einkaufsliste
Bidens Rede erinnerte streckenweise an eine Einkaufsliste, vorgetragen mit belegter Stimme, wie die eines alten Mannes. Je länger er sprach, desto müder wirkte er, mehrmals verhaspelte er sich. Drohte er den Faden zu verlieren, riefen die Menschen «Danke Joe, danke Joe» in die Runde. Und vielen im Saal war klar: Seine Entscheidung, als Präsidentschaftskandidat zurückzutreten, war bestimmt richtig.
Schliesslich wiederholte er einen in Amerika oft gehörten Satz: «Die besten Tage liegen vor uns». Biden betonte, dass er seinen Job als Präsident möge, aber er liebe sein Land mehr. Deshalb trete er jetzt ab. Und forderte die Leute im Saal auf: «Ihr müsst Donald Trump schlagen.»
Dass er Kamala Harris zu seiner Vizepräsidentin gemacht habe, sei die «beste Entscheidung» seiner Karriere gewesen. Er habe Amerika das Beste von dem gegeben, was er hatte.
Kamala Harris und ihr Mann Douglas Emhoff (59) holten ihn zusammen mit Jill Biden von der Bühne. Es war die Übergabe des Staffelstabs an die nächste Generation.
«Wenn wir kämpfen, werden wir gewinnen»
Zwei Stunden zuvor hatte Kamala Harris die Bühne bereits ein erstes Mal betreten. «Heute Abend feiern wir unseren grossartigen Präsidenten Joe Biden», sagte Harris. «Danke, Joe, für dein Leben im Dienste der Nation.» Sie beendete ihren kurzen Auftritt mit dem Schlachtruf ihrer Kampagne: «Denkt daran: Wenn wir kämpfen, werden wir gewinnen!»
Der erste Abend des Parteikonvents machte deutlich, wie die Demokraten diese Wahl gewinnen wollen: Nicht über Themen und Inhalte reden, sondern über Persönlichkeiten. Den ganzen Abend über griffen die Rednerinnen und Redner Trump an. Als Versager, Betrüger, Lügner. Sie prophezeiten das Ende der Demokratie, sollte er wieder Präsident werden.
Fast alle wiederholten das Motto des Abends: «Wir gehen nicht zurück». Nicht zurück in eine Zeit mit Trump im Weissen Haus.