Am Sonntagnachmittag um 14 Uhr Ortszeit geschah, was viele erwartet hatten. US-Präsident Joe Biden (81) zog sich als Kandidat für eine zweite Amtszeit im Weissen Haus zurück. Noch bis 20. Januar wird er das Land regieren und dann die Schlüssel übergeben. «Es war die grösste Ehre meines Lebens, als Ihr Präsident zu dienen», schrieb Biden in seinem Rückzugsschreiben. «Es ist im besten Interesse meiner Partei und des Landes, wenn ich zurücktrete und mich auf die Erfüllung meiner Pflichten als Präsident für den Rest meiner Amtszeit konzentriere.»
Eine späte Einsicht.
Ein Abgang, der nicht zu vermeiden war.
Und eine Ankündigung mit Ansage, die die Demokraten in eine noch tiefere Krise stürzt als ohnehin schon.
Seit dem für Biden desaströsen TV-Duell vor vier Wochen sanken seine Umfragewerte. Parteifreunde schossen hinter vorgehaltener Hand gegen ihn, andere forderten ihn offen zum Rückzug auf. Selbst sein ehemaliger Vorgesetzter, Ex-Präsident Barack Obama (62), meinte, Biden könne Donald Trump (78) nicht schlagen.
Warum wurde Biden überhaupt zugelassen?
Der Rückzug dürfte innerhalb der Demokraten einen heftigen Streit auslösen. Es geht um die Frage, wer dafür verantwortlich ist, dass die Partei Biden überhaupt als Kandidaten zugelassen hat. Warum hat es niemand geschafft, ihn noch vor den Vorwahlen dazu zu bringen, den Stab an seine Vizepräsidentin Kamala Harris (59) zu übergeben?
Er tat es am Sonntagnachmittag – viel zu spät. Auf X sagte er Harris seine volle Unterstützung zu und rief die Demokraten auf, sich hinter sie zu stellen. «Es ist an der Zeit, zusammenzustehen und Trump zu schlagen.»
Biden hatte keine andere Wahl, als Harris seinen Segen zu geben. Obwohl sie in den Umfragen deutlich schlechter abschneidet als der Präsident selbst. Innerparteilich wäre es kaum legitim gewesen, eine schwarze Frau zu übergehen. Ausserdem ist es einfacher, das von Biden gesammelte Geld in die Wahlkampfkasse von Harris zu transferieren.
Niemand will sich verheizen lassen
Es war wohl nicht möglich, jemand anderen als Harris zu finden. Der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump geniesst derzeit landesweit deutlich mehr Zuspruch als noch 2016. Es dürfte für alle Demokraten schwer werden, ihn zu schlagen.
Andere aussichtsreiche demokratische Politikerinnen und Politiker wollen sich in diesem Umfeld kaum verheizen lassen. Denn wer jetzt gegen Harris antritt, die Vizepräsidentin schlägt – und dann gegen Trump verliert, würde seine politische Karriere ruinieren.
Das kann Harris nicht passieren. Tritt sie gegen Trump an, kann die Partei sie zur Retterin hochstilisieren. Selbst eine Niederlage würde man ihr verzeihen. Ihr Erbe kann ihr niemand mehr nehmen. Sie bleibt die erste Vizepräsidentin in der Geschichte der USA. Die erste schwarze Frau, die als Stellvertreterin des Präsidenten fungiert.
Früherer Astronaut als Vize?
Als möglicher Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten wird Senator Mark Kelly (60) aus Arizona gehandelt. Er war früher Astronaut bei der Nasa und ist landesweit bekannt. Ein besonders origineller, aber wenig glaubwürdiger Vorschlag: Hollywood-Star George Clooney (63) als Vizekandidat.
Doch die Hoffnungsträger der Demokraten werden wohl an der Seitenlinie bleiben und auf 2028 warten. Dann darf Trump nicht mehr antreten. Es ist zu erwarten, dass sie auf dem diesjährigen Parteitag der Demokraten im August in Chicago ihre Reden zur besten Sendezeit halten werden. Dazu gehören Gretchen Whitmer (52), Gouverneurin von Michigan, und ihr Amtskollege Gavin Newsom (56) aus Kalifornien. Im Gespräch ist auch Wes Moore (45), der Gouverneur von Maryland.
Der Parteitag der Demokraten dürfte ohnehin sehr turbulent werden. Es wird eine sogenannte «brokered convention», ein ausgehandelter Parteitag. Nicht die Wählerinnen und Wähler der Demokraten, sondern die Parteispitze bestimmt den Kandidaten.
Was macht Trump jetzt? Die Republikaner haben sich seit Tagen auf Harris eingeschossen. Ihre Strategie: Die Vizepräsidentin gehört zum inneren Zirkel der Partei, der Bidens Schwäche kaschiert – und über den wahren Zustand des Präsidenten lügt.