Anfang Juli sollte US-Präsident Joe Biden (81) sie noch austauschen. Ihr eilte ein miserabler Ruf voraus: Sie führe ihr Büro chaotisch, das Personal laufe ihr davon, und bei ihren Reden verbreite sie Wortsalat.
Sechs Wochen später ist Vizepräsidentin Kamala Harris (59) die unangefochtene Präsidentschaftskandidatin der Demokraten. In den nationalen Umfragen hat sie ihren republikanischen Widersacher Donald Trump (78) überholt. Auch die Wettbüros sehen sie vorne. Am Montag beginnt in Chicago ihr Parteikongress, der ihr zusätzlich Schub verleihen dürfte.
Ist Harris also eine «overnight sensation», wie die Amerikaner sagen? Eine Frau, die über Nacht zur Sensation wurde?
Mitnichten. Hinter ihren Umfragewerten stecken harte Arbeit, ein dichtes Netzwerk und weitsichtige Vorbereitung.
Auslöser war ein Entscheid des Obersten Gerichtshofs
Am Anfang ihres Aufstiegs steht eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA, für die massgeblich Trump verantwortlich ist. Im Sommer 2022 urteilte der Supreme Court, dass das uneingeschränkte Recht auf Abtreibung in den USA nicht mehr gilt und die einzelnen Bundesstaaten diesbezüglich Gesetze erlassen können. Drei der Richter waren noch in Trumps Regierungszeit ernannt worden.
Der Entscheid löste bei Demokraten Entsetzen und bei Republikanern sowie Religiösen Jubel aus. Harris empfand ihn als Ansporn. Für sie ist das Recht zum Schwangerschaftsabbruch ein Menschenrecht. Deshalb reiste sie im Herbst 2022 durch die USA und versuchte, mit Reden zum Thema möglichst viele Demokraten für die Kongresswahlen zu mobilisieren. Das gelang ihr, und der erwartete Erdrutschsieg der Republikaner blieb aus.
Auf den Reisen traf sie Tausende von Menschen. Ihre Berater führten genau Buch darüber, mit wem sie sprach, und erstellten eine Excel-Tabelle mit den Namen der Einflussreichen. Laut Recherchen des amerikanischen Magazins «Time» sollte die Tabelle die Grundlage für Harris’ Präsidentschaftskandidatur in vier Jahren bilden; 2028 dürfen weder Joe Biden noch Donald Trump antreten.
Harris’ Mitarbeiter vermerkten in der Tabelle jedes Treffen mit mächtigen Spendensammlern, jede Begegnung mit Spitzengewerkschaftern und jedes Essen mit Gästen, so «Time». Zuletzt verfügte Harris in allen 50 Bundesstaaten über die privaten Telefonnummern und E-Mail-Adressen enger Verbündeter.
Historisch einmalig
Am 21. Juli um 14 Uhr zog sich Biden als Kandidat zurück. Kurz darauf empfahl der Präsident seine Stellvertreterin zur Wahl.
Was dann geschah, ist einmalig in der Geschichte der USA. Innerhalb weniger Stunden setzte Harris eine Maschinerie in Gang, für deren Aufbau andere Monate benötigen.
Die Kandidatin öffnete die Excel-Tabelle und begann zu telefonieren. Ihr Team zapfte das für 2028 vorgesehene Netzwerk an und überzeugte die notwendige Anzahl von Menschen, dass Harris die Richtige fürs Weisse Haus sei. Ihre parteiinternen Gegnerinnen und Gegner hatten nichts Vergleichbares.
Harris sammelte Hunderte von Millionen Dollar. Geld, das sie für Wahlkampfveranstaltungen in den sogenannten Swing States einsetzte, in den Schlüsselstaaten im amerikanischen «Heartland». Dort wird die Wahl am 5. November entschieden. Ihre Redenschreiber haben eine Standard-Ansprache für sie verfasst, in der sie Trump angreift und blossstellt, ohne selbst Angriffsflächen zu bieten. Sie liest sie perfekt vom Teleprompter ab. Zudem befolgt sie den Rat, keine Interviews zu geben und keine Pressekonferenzen abzuhalten.
US-Verkehrsminister Pete Buttigieg (42) spricht von einer «Meisterleistung». «Sie hat die Demokraten in wenigen Stunden konsolidiert. Ich glaube nicht, dass jemand erwartet hat, dass sie so makellos sein würde.»
Raus aus der Biden-Lethargie
Dieser Kraftakt hat die Demokraten aus der Biden-Lethargie gerissen und Trump verunsichert. Noch Mitte Juli wähnte sich der Ex-Präsident als sicherer Sieger. In den Umfragen lag er deutlich vor Biden. Der gescheiterte Attentatsversuch vom 13. Juli liess ihn als unsterblich dastehen. Bei den wahlentscheidenden Themen Wirtschaft und Sicherheit hatte er überzeugende Argumente. Zudem wirkte er ruhiger und besonnener als früher, was ihn für die gemässigte Mitte wählbar machte.
Der Wechsel von Biden zu Harris und deren kometenhafter Aufstieg warfen Trump aus der Bahn. Fürchtet Trump eine Niederlage, verliert er die Fassung – und das kostet ihn erst recht Zuspruch. Harris lässt seine verbalen Angriffe einfach abperlen.
Entschieden ist die Wahl aber noch lange nicht. Ein Blick auf die Landkarte zeigt: Trump kann sein Ziel, die nötigen 270 Wahlleute zu gewinnen, auf vielen Wegen erreichen. Zumal er im wohl entscheidenden Pennsylvania noch knapp vorne liegt.
In diesem US-Bundesstaat hat Harris eine Chance vertan. Sie wählte Tim Walz (60) statt Josh Shapiro (51) zu ihrem Vizekandidaten. Shapiro hätte ihr als Gouverneur von Pennsylvania wichtige Stimmen bringen können. Ausserdem befürwortet er Fracking, die Förderung von Öl aus Schiefer und Sand. In Pennsylvania hängen 100'000 Arbeitsplätze von diesem Verfahren ab. Trump ist dafür, Harris war bis vor kurzem dagegen. Inzwischen ist sie etwas zurückgerudert.
Ein Wahlkampf mit viel Euphorie, aber ohne Programm
Inhaltlich bleibt Harris ohnehin vage. Statt auf Themen setzt sie auf Euphorie. Viele ihrer Positionen gelten als elitär und haben im Landesinnern wenig Chancen.
Auf dem Parteikongress in Chicago wird Kamala Harris wohl Farbe bekennen müssen. Wo steht sie? Was hat sie mit den USA vor? Wie sieht ihre Wirtschaftspolitik aus? Wie ihre Aussenpolitik?
Was aber, wenn sie vage bleibt und statt eines Programms bloss mit hehren Absichten kandidiert? Sie wäre nicht die Erste, die mit dieser Strategie ins Weisse Haus einzieht. Zuletzt gelang dies 2009 Barack Obama (63). Er gilt neben der Excel-Tabelle als treibende Kraft hinter Harris' Kandidatur.