Wilmington, Delaware: «Ich bin nicht nervös für heute Abend, Joe Biden wird unser neuer Präsident!» John Trainor (47) gibt sich am Dienstagnachmittag noch siegessicher. In der Heimatstadt des demokratischen Präsidentschaftskandidaten stehen fast alle Menschen hinter ihrem Joe. «Ich will eigentlich vor Mitternacht ins Bett. Hoffentlich kann ich dann ruhig einschlafen», sagt Ed Weirauch (60), der Biden schon oft getroffen hat und mit ihm regelmässig zur Messe geht.
Alles kommt anders. Das Rennen ums Weisse Haus wird zu einer Zitterpartie – für viele Demokraten vor Ort völlig unerwartet. Im Stadtzentrum von Wilmington fiebern die Biden-Anhänger in den Restaurants mit ihrem Kandidaten die ganze Nacht mit. «Come on, Florida!», ruft Anthony Blake (33) und haut die Faust auf den Tresen. Soeben sind die Hochrechnungen für den Südstaat über die Fernsehgeräte geflimmert – Trump liegt komfortabel in Führung. «Das wird jetzt also doch eine lange Nacht», sagt Blake, der extra von New York nach Wilminigton gereist ist, um in seinem Heimatort die Stimme abzugeben.
Trump und Biden-Fans mögen sich
In der altehrwürdigen Chelsea Tavern finden sich aber auch einige Trump-Anhänger. «Wir haben einen schweren Stand hier», sagt Davis McGregor (29) und gönnt sich einen Schluck von seinem Bier. «Am Morgen war ich noch deprimiert, dass diese hervorragende Präsidentschaft bald zu Ende sein könnte.» Doch: «Jetzt aber siehts wieder besser aus!»
Anthony Blake kommt auf die Gruppe zu. «Egal, wer gewinnt, wir müssen es einfach akzeptieren, oder?» Alle nicken. Die Stimmung in Wilmington ist friedfertig. Keine Gehässigkeiten, keine Provokationen. «Ich finde Trumps Aussage nicht gut, dass er eine Niederlage nicht akzeptieren würde», sagt Davis McGregor. Er unterstütze den Republikaner wegen dessen Politik – «aber sicher nicht wegen seiner Tweets».
«Mir ist der Appetit vergangen»
Je länger die Nacht dauert, desto mehr erinnern sich die Biden-Anhänger an das Jahr 2016 zurück. «Ich habe dasselbe mulmige Gefühl wie damals», sagt Blake, vor ihm ein Teller mit Nachos. «Mir ist der Appetit vergangen», sagt er kurz angebunden.
Am frühen Morgen ist plötzlich Feierabend. Die Bars und Restaurants müssen wegen der Corona-Pandemie schliessen. Die Biden- und Trump-Anhänger prosten sich zu, verabschieden sich. «Ich gehe jetzt schlafen. Vielleicht kann ich am Morgen dann den Champagner aufmachen», sagt Blake. Doch auch daraus wird vorerst nichts: Als die Sonne über Wilmington aufgeht, ist das Präsidentschaftsrennen noch immer völlig offen. Die Wilmingtoner müssen weiter zittern mit ihrem Joe.