Es ist schwül in Chicago. An mancher Kreuzung steht ein Schneepflug. Winter im Sommer am Michigansee? Mitnichten. Die Schneepflüge sind die grössten und schwersten Fahrzeuge der Stadt. Ihre Aufgabe für die nächsten fünf Tage: Autos am Durchkommen hindern.
Chicago, wo ab diesem Montag der Parteitag der Demokraten beginnt, verwandelt sich in eine Festung. Polizisten aus vielen US-Bundesstaaten patrouillieren durch die Strassen. Ganze Stadtviertel sind mit Stahlzäunen abgeriegelt. Betonblöcke blockieren Zufahrtsachsen.
Chicago wird zur Festung
Die Sicherheitsvorkehrungen in Chicago scheinen massiver zu sein als vor einem Monat in Milwaukee bei den Republikanern. Zum einen wegen des Attentatsversuchs auf Präsidentschaftskandidat Donald Trump (78). Vor allem aber, weil in Chicago Zehntausende Demonstranten erwartet werden, die gegen die Israel-Politik der Regierung von US-Präsident Joe Biden (81) und damit auch seiner Vizepräsidentin Kamala Harris (59) protestieren wollen. Es werden die grössten Proteste bei einem Parteitag seit den 1960er-Jahren erwartet, als der Vietnamkrieg die Menschen auf die Strasse trieb.
Trotzdem ist die 80-jährige Roslyn Kashkooli von San Francisco nach Chicago gereist. Die ehemalige Sozialarbeiterin ist «endlich wieder begeistert, eine Demokratin zu sein». Seit 60 Jahren ist sie Parteimitglied, hat oft als freiwillige, unbezahlte Wahlkampfhelferin gearbeitet. Für Barack Obama (63) reiste sie nach Colorado, für Hillary Clinton (76) nach Florida, für Biden nach Arizona. Sie klopfte an Türen und motivierte die Menschen, ihre Stimme den demokratischen Kandidaten zu geben.
Das wird sie in diesem Jahr in Michigan, Wisconsin und Pennsylvania tun, den umkämpften Swing States im Mittleren Westen. «Es ist meine Pflicht, so viele junge Menschen wie möglich zur Wahl zu bringen», sagt Kashkooli. «Ob sie wählen oder nicht, wird darüber entscheiden, ob Harris oder diese unerträgliche Alternative ins Weisse Haus einzieht.»
Sie sei eine Bewunderin Bidens gewesen. «Da ich in seinem Alter bin, weiss ich: Wir brauchen jemanden, der energischer ist. Kamala kann das.»
Parteitag wird zur Stunde der Wahrheit
Für Kamala Harris wird der Parteitag in Chicago zur Stunde der Wahrheit. Seit sie am 21. Juli ihre Kandidatur bekannt gegeben hat, wird sie von den US-Medien mit Samthandschuhen angefasst. Bisher hat sie weder ein Interview gegeben noch ihre politischen Absichten konkret formuliert. Sie hat eine Euphorie ausgelöst, dank der sie in den Umfragen vor Trump liegt.
Leise Kritik wurde an ihrem wirtschaftspolitischen Kurs laut. Sie schlug vor, die Inflation durch ein Verbot von Wucherpreisen bei Lebensmitteln zu bekämpfen. Hauskäufern will sie eine Anzahlungshilfe von 25'000 Dollar geben.
Die Republikaner verspotteten sie dafür als «Kommunistin». Die 80-jährige Roslyn Kashkooli begrüsst die Vorschläge. Für sie ist es wichtig, dass sich der Staat für die Armen einsetzt, «für anständige Löhne, für anständige Lebensbedingungen».
Harte Arbeit für Stimmen
Für Nourbese Flint (40) ist das Recht auf Abtreibung wahlentscheidend. Sie will, dass Abtreibung bezahlbar und zugänglich bleibt. Harris sei ein Garant dafür. «Es ist wirklich aufregend, jemanden zu sehen, der sich so wohl dabei fühlt, darüber zu sprechen.»
Dass Harris nicht in einem demokratischen Prozess, sondern von der Parteiführung zur Kandidatin gekürt wurde, stört sie nicht. «Biden hat einen grossartigen Job gemacht und übergibt nun den Staffelstab an seine Vizepräsidentin, die den Kampf weiterführen wird.»
Ist die Kalifornierin optimistisch? «Im Moment sind wir alle begeistert, aber wir wissen, dass diese Begeisterung in Stimmen umgewandelt werden muss. Dafür müssen wir alle hart arbeiten.»
Einer von ihnen ist Doug Pagitt (59) aus Minnesota, Direktor der Organisation «Vote Common Good». Er hat sich eine schwierige Aufgabe gestellt: Er versucht, evangelikale Christen davon zu überzeugen, nicht den Republikaner Trump, sondern die Demokratin Harris zu wählen. Die Evangelikalen entscheiden Wahlen. «Wenn Trump weniger als 80 Prozent der Evangelikalen bekommt, wird er nicht Präsident.»
Christen für Harris gewinnen
Vor vier Jahren habe Biden rund 25 Prozent der christlichen Stimmen erhalten. «Das können wir auf 30 bis 35 Prozent steigern.»
Wie das gelingen soll? Er werde in den Swing States gehen allen zeigen, «dass Trump in jeder Hinsicht das Gegenteil von dem verkörpert, was Menschen ihren Kindern beibringen und was Christen wollen». Er sei nicht freundlich, habe weder Mitgefühl noch Nächstenliebe.
Doch mit ihrer Pro-Abtreibungs-Position könne Harris die Menschen nicht überzeugen. «Sie setzt sich für Einwanderer, für die Umwelt und für Kinder ein – das kommt bei Evangelikalen gut an.»