Auf einen Blick
- Der schweizerisch-amerikanische Doppelbürger Peter Urscheler ist Bürgermeister von Phoenixville.
- Die Demokraten und Republikaner haben ihn nominiert.
- Er setzt auf Schweizer Werte.
- Phoenixville gilt als Vorbild für Amerika.
Die Herbstsonne wärmt, und Peter Urscheler (41) tritt ans Rednerpult. Vor ihm sitzen 21 Menschen, die heute als neue Amerikaner vereidigt werden. «Demokratie ist ein Gemeinschaftswerk», mahnt der Bürgermeister. Jeder dürfe hier denken und sagen, was er wolle. «Aber Demokratie verlangt, dass wir einander mit Würde und Respekt begegnen.»
Die jährliche Feierstunde sei eine seiner liebsten Aufgaben, sagt Urscheler. Seit 2018 regiert der schweizerisch-amerikanische Doppelbürger die Stadt Phoenixville, eine Autostunde nördlich von Philadelphia in Pennsylvania – dem Bundesstaat, in dem sich am Dienstag die US-Präsidentschaftswahl entscheiden dürfte.
Wer Pennsylvania gewinnt, wird wohl ins Weisse Haus einziehen. Nirgendwo sonst führen Kamala Harris (60) und Donald Trump (78) einen aggressiveren Wahlkampf. Nirgendwo erscheint das Land gespaltener.
Eine Insel im Meer des Hasses
Da wirkt Phoenixville wie eine Insel im Meer des Hasses. Eine Stadt mit knapp 20'000 Einwohnern, je zur Hälfte Anhänger von Demokraten oder Republikanern. Und doch ein Ort, an dem der amerikanische Traum des respektvollen Miteinanders ungebrochen ist.
Nicht zuletzt dank Urscheler, der bewusst auf Schweizer Werte setzt. Bei seiner ersten Wahl 2017 trat er als Demokrat an. Weil er über die Parteigrenzen hinweg ankam, erklärten ihn 2021 auch die Republikaner zu ihrem Kandidaten.
Seine Geschichte ist eng mit zwei Kulturen verwoben. Sein Vater Emil Urscheler, 1927 in St. Gallen geboren, war ein talentierter Schreiner und Fussballer, der für den FC St. Gallen und Servette spielte. Später zog er in die Welt hinaus, lebte in Afrika und Asien. In Australien lernte er Norma kennen, eine Filipina. Das Paar liess sich im US-Bundesstaat Florida nieder, wo Peter 1983 geboren wurde.
Regelmässig besuchte er die Schweiz und die Philippinen, arbeitete in der Finanzbranche, lebte in London, reiste viel. Als seine Mutter 2014 an Krebs starb, nahm er seinen Vater zu sich nach Phoenixville. Als dort der Bürgermeister zurücktrat, bewarb sich Urscheler – und gewann. «Ich engagiere mich gerne», begründet er seinen Einstieg in die Politik.
Ein Friedensstifter – wie die Schweiz
Er vertrete alle Bürgerinnen und Bürger, das kenne er aus der Eidgenossenschaft. «Durch meine Schweizer Wurzeln hatte ich stets das Gefühl, dass ein Bürgermeister neutral sein und Menschen unterschiedlicher Herkunft und Parteizugehörigkeit zusammenbringen muss, damit sich alle wohlfühlen.»
Natürlich sei die Schweiz innovativ und effizient. Aber ihm gefalle, wie sich dort zugleich Einzelne für alle einsetzen. Er sieht sich als «Friedensstifter», wie er sagt. «So wie die Schweiz in der Welt Frieden stiftet, wenn andere Länder dazu nicht mehr in der Lage sind.»
Amerika braucht Frieden – besonders nach einem Wahlkampf, der an Feindseligkeit kaum zu überbieten war. Die Demokraten setzten Trump mit Hitler gleich. US-Präsident Joe Biden (81) bezeichnete dessen Anhänger als «Müll». Die Republikaner verspotteten Vizepräsidentin Harris als «inkompetent» und «dumm».
Urscheler sieht es als Aufgabe der Politik, den Alltag der Bürger zu verbessern: «Wir sind uns nicht immer einig, wie wir die Probleme lösen sollen, aber die meisten Menschen wollen sie lösen.» Phoenixville könne ein Vorbild für Amerika sein: «Ein Ort der Hoffnung, den wir respektvoll miteinander teilen.»
Genau das sei in den USA verloren gegangen. Weil es kaum noch Lokalzeitungen gebe, weil die Menschen sich in sozialen Netzwerken belauern, statt einander in Vereinen begegnen, weil öffentliche Plätze Highways gewichen seien. «Die Kleinstadt ist das Modell für ein neues Amerika», sagt er. Wo man sich in die Augen schaut und respektiert, sich in den hellen Cafés und gut sortierten Buchläden trifft, die Phoenixville heute prägen.
Niedergang und Aufstieg einer Stahlstadt
Das war nicht immer so. Phoenixville boomte, ging unter und erneuerte sich. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Stadt ein blühendes Zentrum der Metallindustrie, das Eisenbahnschwellen, Kanonen und Stahlträger in alle Welt lieferte. In den 1980er-Jahren schlossen die Hochöfen der Stahlwerke, die Stadt verfiel, die Menschen zogen weg.
Phoenixville erhob sich aus der Asche, als das historische Kino Colonial restauriert wurde. Neue Geschäfte folgten, die Lebensqualität stieg, die Nähe zu Philadelphia zog Familien an. Heute ist Phoenixville eine der am schnellsten wachsenden Gemeinden der USA, die Bevölkerung nahm im vergangenen Jahr um 14 Prozent zu.
Vor vielen Häusern wehen Trump-Fahnen, in vielen Vorgärten stehen Harris-Schilder: Kein Problem, sagt Urscheler. «Nur weil wir uns nicht einig sind, wer Präsident sein soll, heisst das nicht, dass wir nicht in Harmonie zusammenleben und unsere Probleme angehen können.» Die Präsidentschaftswahlen würden ohnehin überbewertet. «Wichtiger ist, wer die Strassen repariert, wer unterrichtet, den Müll abholt, das Wasser sauber hält, und das macht nicht der Präsident.»
Urscheler führt durch seine Stadt, zeigt neue und restaurierte Häuser, erzählt, wie er das schweizerische Abstimmungsbüchlein mit Google übersetzt, bevor er die Stimmzettel ausfüllt. Er schwärmt von St. Gallen, argumentiert eloquent, fragt nach, ist neugierig.
Strebt er ein höheres Amt an? Er winkt ab. «Ich arbeite gerne in der Gemeinde, wo ich die Menschen sehe, denen ich diene.» Ausserdem sei er es seinem Vater schuldig, Bürgermeister zu bleiben.
Nach der Vereidigung starb sein Vater
Emil Urscheler hielt am 2. Januar 2018 die Bibel, auf die Peter seinen Amtseid ablegte. Am selben Abend sagte er «Ich liebe dich» zu seinem Sohn. Danach legte sich der 90-Jährige schlafen – und wachte nicht mehr auf. «An diesem Tag habe ich mich verpflichtet, Phoenixville zu dienen, wie meine Eltern gedient haben», sagt Urscheler – seine Mutter als Krankenpflegerin, sein Vater als Fussballcoach.
Er schliesst seine Rede an die neuen US-Bürger mit einem Appell: «Unsere Demokratie ist zerbrechlich. Sie gedeiht, wenn wir uns aktiv einbringen, wenn wir zuhören und uns für gemeinsame Ziele einsetzen.» Es lohne sich: «Sie treten einer Nation bei, die auf den Idealen von Freiheit und Gerechtigkeit aufgebaut ist – und in der Träume wahr werden.»