Obwohl die Beteiligung an dem Referendum am Montag bei nicht einmal einem Drittel der Wahlberechtigten lag, kann die Verfassung in Kraft treten. Sie sieht keine Instanz mehr vor, die den Präsidenten kontrollieren oder ihn gar des Amtes entheben könnte.
Staatschef Kais Saied (64) baut seine Macht damit zulasten von Parlament und Justiz aus. Er kann künftig etwa die Regierung sowie Richter ernennen und entlassen, ohne dass das Parlament dem zustimmen müsste. Zudem soll er die Volksvertretung auflösen können.
Die Verfassung sollte mit Verkündung der offiziellen Ergebnisse automatisch in Kraft treten. Saied hat zudem bereits angekündigt, auch das Wahlrecht ändern zu wollen.
Präsident umging Verfassung
Bislang setzte Saied viele weitreichende Entscheidungen per Dekret durch und umging damit die bisherige Verfassung. Sie war 2014 eingeführt worden und hatte die Macht des Präsident zugunsten des Parlaments und des Regierungschefs beschnitten. Die Einführung der neuen Verfassung ist Teil eines von ihm vorangetriebenen politischen Umbaus des Landes, der auch Parlamentswahlen gegen Ende des Jahres vorsieht. Ein Jahr vor dem Referendum setzte Saied den damaligen Regierungschef ab und zwang das Parlament, seine Arbeit auszusetzen. Später löste er die Volksvertretung ganz auf.
Zuvor hatte sich Saied einen monatelangen Machtkampf mit der islamisch-konservativen Partei Ennahda geliefert, die er durch den Schritt erheblich schwächte. Die als vergleichsweise moderat geltenden Islamisten waren stärkste Kraft im Parlament gewesen und verurteilten die umstrittenen Massnahmen Saieds als «Staatsstreich». In der Bevölkerung haben sie indes deutlich an Zuspruch verloren. Die Partei gilt weithin als korrupt, die Bilanz ihrer Parlamentsarbeit als enttäuschend.
In Tunesien hatten 2010 die arabischen Aufstände begonnen. Damals zwangen mehrere Länder in der arabischen Welt ihre autokratischen Langzeitherrscher in die Knie. Doch Tunesien gelang als einzigem Land in der Region der Wandel zur Demokratie. Kritiker werfen Saied vor, nun auch Tunesien wieder in eine Diktatur zurückführen zu wollen.
Tunesien ist gespalten zwischen Anhängern und Gegnern des Präsidenten. Seit Monaten kommt es auf beiden Seiten immer wieder zu Protesten. Die Opposition hatte zum Boykott des Referendums aufgerufen und den gesamten Prozess als illegitim kritisiert.
Tunesien sei Teil der «islamischen Gemeinschaft»
In der neuen Verfassung heisst es, Tunesien sei ein Teil der «islamischen Gemeinschaft» und der Staat bemühe sich im Rahmen des demokratischen Systems um die Umsetzung der Ziele, zu denen etwa der Schutz des Lebens zähle. Einige Beobachter werten dies als strategische Massnahme des als säkular geltenden Staatschefs Saied, um auch die Anhänger der Ennahda-Partei anzusprechen. Was genau der vage gehaltene Absatz in der Praxis meint, ist indes nicht klar.
Eine Abkehr vom Wandel zur Demokratie in Tunesien würde hart erarbeitete Fortschritte zunichte machen - gerade im Vergleich zu anderen Ländern der Region, in denen der sogenannte Arabische Frühling wenig nachhaltige Wirkung zeigte. (SDA)