Der Mann am Telefon gehört zur OSZE-Beobachtermission an der ostukrainischen Front. Sein wahrer Name darf deshalb nicht erwähnt werden: «Nennen Sie mich einfach François Villon.»
Der französische Dichter war berüchtigt für seine derbe Kritik an den Obrigkeiten – der Mann am Telefon macht es ihm nach: «Die lauwarmen Proteste nach dem Zwischenfall von letzter Woche werden die Krise weiter eskalieren lassen. Putin wird weiter an der Provokationsschraube drehen.»
Seit 2015 haben es Moskau und die ostukrainischen Separatisten auf Mariupol abgesehen, eine Hafenstadt am Asowschen Meer. Von hier exportiert die Ukraine vor allem Getreide und Stahl. Die Strasse von Kertsch verbindet das Asowsche mit dem Schwarzen Meer. Bislang nutzte Russland den schmalen Streifen Wasser zwischen dem russischen Festland und der Ostküste der 2014 annektierten Krim, um den Schiffsverkehr von und nach Mariupol zu stören. Am Sonntag letzter Woche aber rammte ein russisches Kriegsschiff hier einen ukrainischen Schlepper. Zwei begleitende Patrouillenboote wurden beschossen, die 24-köpfige Besatzung verhaftet.
Ukraine verhängte Kriegsrecht
Am Rand des G-20-Gipfels riefen die Staaten des Westens gestern zur Zurückhaltung auf. Die Spitzenpolitiker in Buenos Aires sind sich dabei mit dem früheren stellvertretenden Missionschef der OSZE-Beobachtungsmission in der Ukraine Alexander Hug einig, dass «solche Vorfälle militärisch nicht gelöst werden können».
Gegenüber SonntagsBlick bekundet der Schweizer Hug vielmehr sein Vertrauen in «das Völkerrecht, bestehende Abkommen sowie internationale Organisationen wie die OSZE. Säbelrasseln ist gefährlich und kann zu weiterer Eskalation führen.» Doch die Ukraine hat sich anders entschieden: Das Parlament in Kiew folgte dem Antrag von Präsident Petro Poroschenko (53) und verhängte für 30 Tage das Kriegsrecht über die Grenzregionen im Osten.
Putins Aussenminister Sergei Lawrow (68) sieht das als definitiven Beweis dafür, wer Urheber der Krise ist: Poroschenko habe den Zwischenfall vor der Krim bewusst provoziert, um seine drohende Niederlage bei der Wahl im März abzuwenden, die ihm alle Umfragen prophezeien.
Angst vor weiteren Saktionen
Der ukrainische Abgeordnete Mustafa Najem (37) widerspricht. Er sieht in der Entscheidung für das Kriegsrecht ein positives Zeichen: «Zum ersten Mal überhaupt haben sich die Regierung, das Parlament, die Medien und die Zivilgesellschaft hinter den Präsidenten gestellt. Aber nicht in nationalistisch-blindem Gehorsam, sondern zu ihren eigenen Bedingungen.» Najem glaubt, dass Putin sich verzockt hat: «Anstatt die Ukraine weiter zu spalten, hat er uns diesmal geeint.»
Der Abgeordnete fürchtet aber auch weitere Aktionen Moskaus wie die der letzten Jahre, mit denen es die Krisen in der Ostukraine und anderen Rebellengebieten am Kochen halten will. So werden von den Sanktionen verbotene Finanz-, Waffen- und Warengeschäfte seit 2015 über die Republik Südossetien abgewickelt, die sich von Georgien abgespalten hat und nur von Russland, Venezuela und Nicaragua anerkannt ist.
Über die International Settlements Bank fliessen Millionenbeträge in die Ostukraine. Damit bezahlen die «Regierungen» in Donezk und Luhansk Lebensmittel und Treibstoff, die Russland ihnen liefert: ein Verstoss gegen das Sanktionsregime, der allerdings von niemandem unterbunden werden kann.
Der ostukrainische «François Villon» befürchtet, dass Moskau den versteckten Krieg bewusst weiter anheizen könnte: «Putin braucht die Krise, um von der wirtschaftlichen Krise im eigenen Land ablenken zu können.»
Seit dem russischen Marineeinsatz vor der Krim melden ukrainische Einheiten, dass an der Grenze aufgebaute Störsender ihren Funkverkehr beeinträchtigen. Ukrainische Propaganda? Oder lässt Moskau an der Grenze wirklich mehr Truppen aufmarschieren?
Der Mann an der ostukrainischen Front sieht sogar Europa selbst in Gefahr: «Was macht die EU, wenn Hunderttausende vor den russischen Truppen über ihre Grenzen fliehen?»