Salman Coskun sitzt in seinem Restaurant Babo’s an der Zürcher Langstrasse und liest den BLICK. Der Familienvater stammt aus dem Süden der Türkei, lebt aber seit 30 Jahren in der Schweiz. Er ist Mitglied der Cumhuriyet Halk Partisi (CHP), die 1923 von Kemal Atatürk gegründet wurde. Heute ist die CHP die grösste türkische Oppositionspartei – und Coskun ihr Vertreter in der Schweiz. Kann er erklären, was in seiner Heimat passiert?
BLICK: Als Vertreter der CHP sind Sie eine Art Gralshüter der modernen Türkei. Wie beurteilen Sie die Entwicklung in Ihrer Heimat?
Salman Coskun: Die CHP ist die Gründerpartei der Türkei. Damals waren alle möglichen politischen Strömungen vertreten. Mit den Jahren entwickelte sich die CHP zu einer sozialdemokratischen Volkspartei. Auch die Türkei hat sich bewegt: in Richtung einer westlichen Demokratie. Wir haben Gesetze des Westens sowie kulturelle Errungenschaften übernommen. Wie erfolgreich das war, kann man diskutieren. Aber die Grundsätze für eine demokratische Türkei waren vorhanden. Die Trennung von Religion und Politik zum Beispiel.
Und heute?
Wenn ich mir die Türkei heute anschaue, sehe ich ein Werk, das 100 Jahre aufgebaut wurde, um jetzt zerstört zu werden. Seit zehn Jahren teilt die Regierung die Menschen systematisch nach Religion, Herkunft und Lebensstil ein. Das hat Folgen. Treffen sich zwei Türken heute, fragen sie zuerst: Was bist du, Sunnit oder Alevit? Kurde oder Türke? Das ist das zerstörerische Werk dieser Regierung.
Präsident Recep Tayyip Erdogan hat die Mehrheit hinter sich.
Es macht mich traurig, über mein Land, das so schön ist, so zu sprechen. Bei uns sagt man: Familiäre Probleme sollen in der Familie bleiben. Aber der Zustand der Türkei ist kein Familienproblem mehr. Wir dürfen nicht schweigen, in der Türkei ist eine Hexenjagd im Gange. Die Putschisten sollen nach dem Gesetz bestraft werden. Doch die Türkei ist kein Rechtsstaat mehr, sondern ein Ein-Mann-Staat. Geführt von einem, der alle sechs Monate einen neuen Verräter erfindet, um sich an der Macht zu halten.
In Europa befürchten wir die Islamisierung der Türkei. Zu Recht?
Die Türkei bewegt sich stark in diese Richtung. Die Regierung möchte jetzt, dass Kinder in der Schule Arabisch lernen, damit sie den Koran lesen können. Es wurden mehr religiöse Lehrer eingestellt. Das macht mir grosse Sorgen. Aber es ist noch nicht alles verloren. Die Türkei wird nicht islamisiert. Es kommt gut.
Mit oder ohne Erdogan?
Nur ohne ihn. Ich hoffe, dass er bei den nächsten Wahlen abgestraft wird.
Gleichzeitig spitzt sich die Lage im Kurdengebiet zu. Es gab wieder PKK-Anschläge. Ein Pulverfass?
Diese Gewalt ist schrecklich. Die PKK soll die Waffen niederlegen. Aber auch die Regierung muss sich anders verhalten. An all dem hat auch Europa schuld: Es hat Erdogan immer unterstützt.
Viele Türken in Europa trauen sich nicht, die Regierung offen zu kritisieren. Sie schon. Haben Sie keine Angst?
Ich bin ohnehin in der Opposition. Wissen Sie: Ich informiere mich über die Türkei, aber ich mische mich dort nicht ein. Ich lebe hier.
Die Spaltung der Türkei, merkt man die auch in der Schweiz?
Natürlich sind auch wir gespalten. Es gab nach dem Putsch Drohungen von AKP-Anhängern gegen andere Türken, Leute werden denunziert. Das ist falsch. Wir dürfen die Probleme der türkischen Gesellschaft nicht in die Schweiz tragen. Was in der Türkei passiert, muss dort bleiben. Wir haben hier unsere eigenen Probleme: Integration, Sprache, Kultur. Unsere Kinder, die nur schwer eine Lehrstelle finden und vielleicht der IS-Propaganda ausgesetzt sind. Das sind unsere Probleme.