Türkei nach den Wahlen
Kommt jetzt die Diktatur?

Bei der Parlamentswahl in der Türkei hat die islamisch-konservative Regierungspartei AKP die absolute Mehrheit zurückerobert. Ein Türkei-Experte erklärt, warum Erdogan gesiegt hat.
Publiziert: 03.11.2015 um 13:37 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2018 um 22:34 Uhr
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Der türkische Präsident Erdogan grüsst in Istanbul Anhängerinnen.
Foto: Reuters
Interview: Guido Felder

Christoph Ramm, Präsident Erdogan erhält immer mehr Macht. Wird die Türkei zur Diktatur?
Christoph Ramm*:
Erdogan hat nur eine absolute parlamentarische Mehrheit, aber keine verfassungsändernde Mehrheit. Die ist auch in weiter Ferne, da er unter den jetzigen Umständen keine andere politische Partei für das von ihm gewünschte Präsidialsystem gewinnen wird. Nach der Wahl bleibt die Türkei eine formale Demokratie, die durch autoritäre Institutionen und selbstherrliches Verhalten ihrer Führungseliten eingeschränkt ist.

Wohin steuert Erdogan sein Land?
Die AKP wird mit ihrer absoluten Mehrheit noch mehr staatliche Ressourcen und Institutionen unter ihre Kontrolle bringen können, soweit das nicht schon geschehen ist. Sollte Erdogan seinen Kurs der Polarisierung beibehalten, dürfte es schwierig werden, die Türkei zu stabilisieren.

Die AKP ist eine islamisch-konservative Partei. Führt die Türkei die Scharia ein?
Die AKP hat sich zu einer religiös-rechtspopulistischen Partei entwickelt, die den Glauben der sunnitischen Mehrheit für den eigenen Machterhalt benutzt. Als bürgerliche Partei hat sie jedoch keinerlei Interesse daran, die Scharia einzuführen.

Der kurdische Dichter und Journalist Yilmaz Odabasi hat aus Protest das Land verlassen. Was bedeutet das Wahlresultat für die Kurden?
Für demokratisch orientierte Kurden, die nach mehr Freiheiten streben, ist die Wahl ein schwerer Rückschlag. Es haben jedoch auch wieder mehr konservative Kurden für die AKP gestimmt, die sich durch den militanten Kurs der PKK abgeschreckt fühlten.

Was bedeutet das Resultat für Europa, was für die Schweiz?
Die Türkei ist Teil eines Trends hin zu autoritär-nationalistischen Politikmodellen, wie er auch in anderen europäischen Ländern wie Ungarn oder Polen festzustellen ist.  Das stellt eine enorme Herausforderung für die liberale Demokratie dar. Sollte der Kurdenkonflikt und die politische Repression in der Türkei weiter eskalieren, kann es passieren, dass auch wieder mehr Oppositionelle aus dem Land in Westeuropa und der Schweiz Schutz suchen werden.

Wie wird Erdogan mit der Flüchtlingskrise umgehen?
Er dürfte seine gefestigte Machtposition dazu nutzen, der EU weitere Zugeständnisse abzuringen.

Waren die Wahlen echte Wahlen oder gab es Manipulation?
Die Wahlen selbst scheinen insgesamt fair verlaufen zu sein. Das Problem ist eher, dass die AKP während des Wahlkampfs die staatlichen Medien für sich instrumentalisiert hat.

Im Vorfeld der Wahlen gab es viele Anschläge und militärische Aktionen. Wollte Erdogan damit bewusst Chaos produzieren, damit die Bürger für Sicherheit wählen?
Auch wenn man die Verschwörungstheorien, die die AKP direkt hinter den Anschlägen sehen, skeptisch betrachten sollte: Erdogan hat nichts dafür getan, die Lage vor den Wahlen zu deeskalieren. Stattdessen hat er den wieder aufgeflammten Konflikt mit der PKK und die Attentate dazu benutzt, um sich als starken Mann zu inszenieren, der allein für Stabilität sorgen kann.

Schweiz-Türken haben für die Opposition gestimmt, Deutsch-Türken für Erdogan. Warum diese Differenz?
Deutsch-Türken sind mehrheitlich konservative Einwanderer aus ländlichen Regionen, die sich mit Erdogan identifizieren können. Viele Schweiz-Türken sind dagegen politische Flüchtlinge aus den Städten oder den kurdischen Gebieten, die den autoritären Kurs der AKP kritisieren.

* Dr. Christoph Ramm ist Türkei-Experte an der Uni Bern.

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