«Titanic»-Chefredaktor Tim Wolff tritt nach
«Der Fall Böhmermann führt zu sehr vielen Ziegenwitzen»

«Titanic» ist die böseste deutsche Adresse für Satire. Der Chef des Magazins erklärt, warum Deutsche Mühe mit Humor und Merkel mit der Demokratie hat.
Publiziert: 17.04.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 04:17 Uhr
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«Titanic»-Chefredaktor Tim Wolff wirft sich in die Pose des türkischen Präsidenten.
Foto: Thomas Hintner
Peter Hossli

Tim Wolff (38) ist zufrieden. «Es ist doch sensationell, dass die Kanzlerin sich mit Satire befasst.» Damit adelt Angela Merkel (61) einen Stand, in dem Wolff der Zunftmeister ist. Er amtet als Chefredaktor des deutschen Satiremagazins «Titanic», bisher böseste Adresse für deutschen Humor.

Ein Rang, den ihm Jan Böhmermann (35) abläuft – mit einem Schmähgedicht auf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan (62). Betrübt ist Wolff darüber nicht. «Es ist doch schön, über Satire zu reden, bei der es nicht wie letztes Jahr um ­Leben und Tod geht.» Damals, als Terroristen elf «Charlie Hebdo»-Satiriker ermordeten.

Und doch ist es ernst. Merkel lässt ein Strafverfahren gegen Böhmermann zu. Ein letztes Mal wendet sie den Majestätsbeleidigungs-Paragrafen 103 an. Obwohl sie ihn schlecht findet und abschaffen will. «Ein grandioser Witz!», sagt Wolff. «Vielleicht ist Merkel ja doch etwas satirekundig.»

Kanzlerin in Panik

Warum sie es macht, glaubt Wolff zu wissen. «Im Kanzleramt herrscht echte Panik. CDU-Wähler wandern zur AfD ab, zu der Partei, die an der Grenze auf Zuwanderer schiessen möchte.» Diesen Wählerschwund könne Merkel nur stoppen, wenn keine Flüchtlinge mehr kämen. «Da ist die Türkei für sie sehr wichtig, Erdogan soll den deutschen Grenzschützern die Arbeit abnehmen.» Indem sich die Kanzlerin nun direkt in die Justiz einmische, «nähert sich Merkel Erdogan an». Doch nicht nur die deutsche Demokratie sei schwächlich. «Deutsche und Humor? Es braucht noch einige Jahre, bis sich das versöhnt.»

Zumal das Land seine jüdische Kultur verloren habe. «Humor und Komik funktionieren, wenn man Emotionen rauslässt. Lachen ist ein körperlicher Vorgang, es ist besonders lustig, wenn man die Kontrolle verliert.» Dann erinnert Wolff an die deutsche Geschichte. «Verlieren die Deutschen aber die Kontrolle und lassen sie ihre Emotionen raus, sterben Millionen von Menschen.» Daher gelte: «Es dauert noch eine Weile, bis wir so richtig locker drauf sein werden.»

Er erzählt, welche Politiker am heftigsten auf Satire reagieren. «Die Sozialdemokraten! Die sind sofort beleidigt. Sozialdemokraten haben keinen Humor. Vermutlich ist Erdogan im Herzen ja ein Sozialdemokrat.» Ganz anders der konservative Altkanzler Helmut Kohl (86): «Der hat sich nie gewehrt, obwohl wir bei ihm ständig die Grenzen des guten Geschmacks überschritten.»

Wolffs Heft löste 2012 selbst fast eine Staatskrise aus. «Titanic» bildete den damaligen Papst Benedikt XVI. (89) auf dem Titel mit gelbem Urinfleck auf weisser Robe ab. Aber eben, es war eine Beinahe-Staatskrise. «Da Merkel den Vatikan nicht auf den Majestätsbeleidigungs-Paragrafen aufmerksam gemacht hat», so Wolff. «Es klärte keiner den deutschen Papst auf, da es im Vatikan nicht sonderlich viele Flüchtlinge gab.» Im Gegensatz zur Türkei heute. «Deshalb liefert Merkel den Türken das gesamte Werkzeug, um Böhmermann einzuklagen.» Als Benedikt klagte der Papst damals zivilrechtlich, nicht unter dem bürgerlichen Namen Joseph Ratzinger. «Bis heute weiss ich nicht, ob ein Papst überhaupt ein Persönlichkeitsrecht hat, er ist doch eine Kunstfigur», sagt Wolff.

Sicher sei: Die später zurückgezogene Klage war das bisherige Highlight in der 36-jährigen Geschichte des Magazins mit einer Auflage von monatlich 100'000 Exemplaren. «Es gibt nichts Besseres, als vom Papst verklagt zu werden. Da müsste schon Gott kommen.»

Was aber darf Satire? «Ach, diese gute Frage!», sagt Wolff. «Alles», meinte der deutsche Dichter Kurt Tucholsky (1890–1935) famos. Wolff schränkt ein: «Alles, solange es echte Satire ist, solange ein kundiges Publikum den Witz erkennt und mit der Ambivalenz der Aussage umgehen kann.» Böhmermanns Schmähgedicht sei «allein für sich keine Satire», sagt er. «Aber er setzte es in einen Kontext.» Dem «satireunkundigen Erdogan» wollte er zeigen, dass er sich nicht über das harmlose «Extra 3»-Lied aufregen dürfe. «Böhmermann führte vor, über was man sich wirklich aufregen kann», so Wolff. «Da musste er rassistisch und verletzend sein, denn sonst funktioniert der Witz nicht.»

Aber ist es denn ein Witz? «Ja, denn niemand glaubt ernsthaft, Erdogan besteige tatsächlich Ziegen. Es gab keinen einzigen Zuschauer, der nach dem Gedicht der Auffassung war, Erdogan habe Sex mit Ziegen. Daher kann es gar keine echte Schmähung sein.»

Jeder ein Satiriker

Mathias Döpfner (53), Chef von Axel Springer, solidarisierte sich mit Böhmermann. Eher witzlos fiel das erfundene, aber satirisch gemeinte Böhmermann-Interview von Kai Diekmann (51) aus. Der «Bild»-Chefredaktor sei aber nicht der peinlichste Trittbrettfahrer. «Das war bisher klar Dieter Hallervorden.»

Hallervorden sang ein selbstverfasstes Erdogan-Lied. «Das verdient kein Mensch, nicht mal Erdogan», sagt Wolff. «Von Hallervorden besungen zu werden, ist schlimmer als drei Jahre im Knast zu sitzen.»

Fliessend seien die Grenzen der Satire, betont Wolff. «Es braucht den aktuellen Bezug.» Ein echtes Datenleck im Vatikan habe die Zeile «die undichte Stelle ist gefunden» und den Papst mit Urinfleck gerechtfertigt. «Wir zeigten so, dass Papst Benedikt zu schwach und zu alt ist, seinen Laden unter Kontrolle zu halten – das sah er ein Jahr später ein und trat zurück.» Wolff mit Selbstlob: «Da waren wir doch regelrecht prophetisch.»

Den islamischen Propheten Mohammed (570–632) ähnlich zu verulken, wie es verletzte Katholiken damals von «Titanic» forderten, sei «Quatsch». «Kommt Mohammed auf die Erde zurück, gründet er einen eigenen Kirchenstaat und verliert dabei die Kontrolle über seine Unterlagen, dann machen wir den gleichen Witz über ihn wie über den Papst.»

Seit Oktober 2013 leitet Tim Wolff die «Titanic»-Redaktion. Eine seiner ersten Ausgaben bescherte ihm Morddrohungen – von Fans des verunfallten Formel-1-Rennfahrers Michael Schumacher (47). Wolff zeigte ein Foto von Ex-Rennfahrer Niki Lauda (67), dazu die Schlagzeile: «Erstes Foto nach dem Unfall: So schlimm erwischte es Schumi.» Darf man auf einen treten, der im Koma liegt? «Nein, das darf man nicht», betont Wolff. «Aber der Witz war als Medienkritik gedacht, da steht ja ‹exklusiv› drauf.» Der deutsche Presserat habe verstanden, «dass wir die Sensationsgeilheit der Medien überspitzt darstellten.» Bis heute habe die Familie Schumacher nicht geklagt. «Zumal ja noch immer Hubschrauber über ihrem Anwesen kreisen, um das erste Foto von ihm zu machen.»

Was schon feststeht: «Titanic» will Böhmermann übertreffen. «Zur letzten Ehrenrunde von Paragraf 103 werden wir sämtliche Präsidenten der Welt aufs Übelste beleidigen. Damit sich Erdogan nicht als etwas Besonderes fühlt.»

Wie ändert der Fall Böhmermann die deutsche Satire? «Er führt zu sehr vielen Ziegenwitzen», sagt Wolff. «In Deutschland wird Satire zudem jetzt als Gefahr gesehen. Und zwar von einer Regierung, die sich auf Erdogans Kurs befindet.»

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