Ihre Zukunft hatte sich Lisa G.* (33) anders vorgestellt. Vor drei Jahren zieht sie in die chinesische Mega-City Shanghai, baut sich einen Handel mit Cashmere- und Seidenpullis auf. Doch kaum angekommen, bricht das Corona-Virus aus. «Schon damals mussten wir in Isolation», erzählt die Tessinerin aus Gudo TI, «doch dieses Mal ist der Lockdown viel schlimmer.»
Es ist der 25. März 2022. Nach langer Zeit werden wieder Corona-Fälle gemeldet. Erst vereinzelt. Dann häufen sie sich. China, das auf Null-Covid setzt, greift erbarmungslos durch. «Über die beiden Stadtregionen Puxi und Pudong wurde der Lockdown verhängt. In Pudong galt die Ausgangssperre sofort. In Puxi, wo ich wohne, wenig später», erzählt Lisa G. «Menschenmassen stürmten in der letzten Minute die Supermärkte. Dabei haben sich offenbar viele infiziert». 26 Millionen Menschen sind fortan eingesperrt. Auch Lisa G. musste in die Hochhaus-WG, die sie zur Zeit mit zwei weiteren jungen Frauen teilt.
«Viel Zeit, sich vorzubereiten, gab es nicht», sagt die Tessinerin, «wir hatten noch ein wenig Pasta und Reis im Schrank.» Die Vorräte gingen zur Neige. Es folgte das grosse Bangen. «Lebensmittel kann man nur über Apps bestellen. Die waren bald blockiert oder die Waren ausverkauft», sagt Lisa G. «Wir wagten kaum, das Wenige, das wir hatten, zu essen, weil wir nicht wussten, wann wir wieder Lebensmittel bekommen würden.» Die ersten Tage seien traumatisch gewesen, der Kühlschrank lange leer.
Ältere besonders hart betroffen
Horror-Videos begannen übers Netz zu kursieren: Verzweifelte Menschen, die zu Hunderten aus den Hochhäusern schreien, weil sie Angst haben, zu verhungern. «Wir haben solche Bilder hier in den Gegend nicht gehabt. Aber sie sind keine Fake News. Menschen, die kein Smartphone haben, können sich nicht versorgen. Es trifft vor allem Ältere. Manche sind krank, brauchen Medikamente oder Pflege, die sie nun nicht bekommen». Sie könne verstehen, dass so mancher den Verstand verliert, sagt Lisa G.. Man sei nah an der Panikattacke, «einen befreienden Schrei, würde ich auch gern loslassen».
Lockdown in Shanghai heisst absolute Ausgangssperre. «Nur zu den täglichen Tests darfst Du raus», erzählt Lisa G., «die werden über Megaphone ausgerufen». Die Tessinerin steckt in ihrem zehn Quadratmeter grossem Zimmer fest. Da weiterhin neue Corona-Fälle auftauchen, verlängert sich der strikte Lockdown immer wieder aufs Neue. «Ich mache Yoga, damit ich nicht durchdrehe, denke positiv, bin viel online mit meiner Familie in Kontakt.»
Ein Plastikbeutel mit Gemüse von chinesischen Staat
Lisa G. hat ihren Alltag auf den Kopf gestellt: «Ich gehe ganz früh ins Bett und stehe bei Morgengrauen auf. Dann kommt man auch besser bei den Einkaufs-Apps durch.» Erst nach zwei Wochen lieferte der Staat die versprochene Lebensmittelration. «Ein Plastikbeutel mit Gemüse lag vor der Tür», erinnert sich Lisa G., «lange gereicht hat das Essen natürlich nicht.»
Mittlerweile läuft die Versorgung besser. «Die Wohnblocks haben sich organisiert, bestellen direkt bei den Grosshändler wenige Sachen in grossen Mengen. 1000 Eier zum Beispiel, Mehl und Brot», erklärt die gestrandete Schweizerin, «dann gibts die ganze Woche nichts anderes als Omelette, Rührei und Crêpes».
Am Dienstag, den 19. März, werden sieben Corona-Tote gemeldet. Shanghai registriert über 20'000 Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden. Ein Ende des Lockdowns sei nicht in Sicht, sagt Lisa G., «ich zähle die Tage nicht mehr. Das macht mich nur wütend». Ihr Pulli-Handel liegt brach. Sie schmiede Zukunftspläne, «irgendwann ist ja auch dieser Lockdown vorbei», sagt Lisa G. geduldig.
*Name der Redaktion bekannt