Der ohnehin schon brutale Terror-Krieg in Afghanistan hat eine weitere, kaum vorstellbare Stufe der Gewalt erreicht: Bei einem Angriff auf eine Frauenklinik in Kabul haben drei Killer junge Mütter erschossen und sogar ihre Neugeborenen nicht verschont.
Als Polizisten verkleidet stürmten die Terroristen am Dienstag das Spital Dasht-e-Barchi. Zuerst warfen sie Handgranaten und schossen darauf mit Gewehren um sich. Ein Augenzeuge berichtete: «Da kam ein Mann angelaufen, in einer Polizeiuniform. Der hat auf Sicherheitsleute geschossen und sogar auf Frauen, die vor dem Krankenhaus standen.»
Keine Besucher wegen Corona
Das Gemetzel setzte sich in der Neugeborenenabteilung fort. Mindestens 22 Mütter und Krankenschwestern sowie zwei Babys starben im Kugelhagel. 18 Säuglinge – zwischen einigen Stunden und fünf Tage alt – haben blutüberströmt überlebt. Die meisten werden ohne Mutter aufwachsen müssen.
Die im Wochenbett liegenden Mütter, die Babys, das Personal: Sie waren den schwer bewaffneten Tätern schutzlos ausgeliefert. Wegen Corona-Massnahmen befanden sich keine Angehörigen der Wöchnerinnen im Spital.
Väter holen Babys, Frauen betteln um Kinder
Nach dem Gemetzel herrschte in der Klinik ein wildes Durcheinander. Gebrochen strömten Ehemänner und Väter zum Spital. Umgehend begann man damit, die Neugeborenen zu versorgen und den richtigen Familien zu übergeben. Von einer Liste wurden die Namen der Frauen verlesen, zu denen die Babys gehörten. Namen hatten die Kleinen noch nicht.
Die Zuordnung der Babys nahmen Männer vor, die sich um den Gemeindeältesten versammelt hatten. Im islamisch-konservativen Land ist das Nennen der Frauennamen in der Öffentlichkeit streng verboten. Für einmal aber hörten die Männer still und aufmerksam zu.
Aber auch fremde Frauen kamen zum Spital, wie die «New York Times» berichtet. Sie nutzten die Notlage aus und baten um Babys, die sie adoptieren wollten.
Taliban oder IS?
Wer hinter dem perfiden Anschlag steht, ist unbekannt. Die Regierung macht die Taliban dafür verantwortlich, die aber dementieren. Ebenso gut könnte es der Islamische Staat (IS) gewesen sein, der sich in Afghanistan breit macht und gegen die Taliban um die Vorherrschaft kämpft.
Denn der IS sucht sich gerne «weiche» Ziele aus. So hat sich ebenfalls am Dienstag in der Provinz Nangarhar ein IS-Selbstmordattentäter bei der Beerdigung eines Polizeikommandanten in die Luft gesprengt und mindestens 32 Menschen in den Tod gerissen.
Am Donnerstag kam es im Osten des Landes erneut zu einem Anschlag: Eine Autobombe vor einen Militärgebäude in Gardis riss Dutzende Menschen in den Tod. Bisher hat sich noch niemand zum Attentat bekannt.
Armee in der Offensive
Solche Angriffe sind selbst für ein Land, das sich an Attentate gewöhnt ist, unerträglich. Präsident Aschraf Ghani (70) hat der Armee befohlen, wieder in die Offensive zu gehen. Gleichzeitig forderte er die militant-islamistischen Taliban erneut zu einer Waffenruhe auf.
Wegen geplanter Friedensgespräche blieb die afghanische Armee seit Ende Februar eher in der Defensive. Die Taliban bezeichneten Ghanis Ankündigung als «Kriegserklärung».
Die Reaktion der Regierung könnte nach Einschätzung von Experten zu einer neuen Gewaltwelle führen. «Die Ankündigung der afghanischen Regierung, die Operationen gegen die Taliban in vollem Umfang wieder aufzunehmen, macht die Frage nach der Verantwortung praktisch überflüssig», sagt Afghanistan-Experte Andrew Watkins gemäss der Nachrichtenagentur SDA. Dies bedeute aber nicht gleich den «Tod des Friedensprozesses». Der gewaltsame Konflikt in Afghanistan sei «traurige Realität» seit Jahren.
Abkommen mit den USA
Die USA hatten mit den Taliban am 29. Februar in Doha (Katar) ein Abkommen unterzeichnet. Es sieht einen Abzug der internationalen Truppen sowie einen Gefangenenaustausch vor und soll den Weg für innerafghanische Friedensgespräche bereiten. Die Regierung in Kabul war nicht daran beteiligt worden, weil die Taliban direkte Gespräche mit ihr bisher abgelehnt hatten.