Terrorexperte Ulrich Tilgner misstraut den Versprechen der Taliban
«Die Nacht der langen Messer kommt später»

Die Situation in Afghanistan hat direkte Folgen für Europa und die Schweiz. Nahost-Experte Ulrich Tilgner (73) gibt einen Überblick.
Publiziert: 17.08.2021 um 01:05 Uhr
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Aktualisiert: 17.08.2021 um 08:58 Uhr
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Nahost-Experte Ulrich Tilgner schätzt die Situation in Afghanistan für Blick ein.
Foto: Sobli
Michael Sahli

Noch geben sich die Taliban friedlich. Es werde «keine Rache an irgendjemandem» geben, sagte ein Taliban-Unterhändler in einem Interview. Dass die Islamisten das Versprechen langfristig halten, sei unwahrscheinlich, befürchtet jedoch Nahost-Experte Ulrich Tilgner (73): «Die Nacht der langen Messer kommt später.» Tilgner berichtete jahrelang selber aus der Region. Für Blick schätzt er die Situation in Kabul und die Folgen für Europa ein.

Für die Schweiz sieht der 73-Jährige vor allem eine humanitäre Verpflichtung: «Die Schweiz sollte gewisse Flüchtlinge aufnehmen, etwa die Leute, die für das EDA oder für Schweizer Organisationen vor Ort gearbeitet haben.» So könne man ein Vorbild für andere Länder sein. Einen entsprechenden Entscheid hat Justizministerin Karin Keller-Sutter gefällt. Rund 200 Personen, lokale Deza-Mitarbeiter und ihre Familien, sollen ein humanitäres Visum erhalten. Unklar bleibt jedoch, wo sich diese 200 Menschen aktuell befinden.

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«Die Hardliner werden ein Massaker organisieren»

Einige Länder wie zum Beispiel Deutschland gehen bei der Evakuierung der lokalen Helfer sehr zurückhaltend vor, kritisiert Tilgner. «Dabei gibt es ein hohes Risiko, dass sich die Taliban an ihnen rächen», sagt er. Und weiter: «Ich kann mir nichts anderes vorstellen, als dass sich die Hardliner langfristig durchsetzen und Rache üben werden. Und ein Massaker organisieren.»

Viele Afghanen teilen diese Befürchtungen. Und versuchen zu flüchten. «Man muss damit rechnen, dass sich Menschen in Bewegung setzen, auch in Richtung Europa», sagte der deutsche Innenminister Horst Seehofer in einem Interview. Auch die EU wird aktiv. Der Vizepräsident der EU-Kommission, Margaritis Schinas, drängt im Interview mit «La Stampa» auf eine schnelle Einigung bei der EU-Migrationspolitik.

Dass es zu einer Situation wie 2015 kommt, wo sich Millionen auf den Weg nach Europa machten, glaubt Nahost-Experte Tilgner aber nicht: «Die Taliban werden die Leute nicht mehr rauslassen. Die Iraner werden sie nicht durch- und die Türken nicht reinlassen. Und das alles wird mit der Unterstützung von Europa passieren.»

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«Theoretisch steigt das Risiko für Anschläge in Europa»

Auch für die Millionen Flüchtlinge, die in Afghanistans Nachbarländern ausharren, befürchtet der Experte schlimme Zustände: «Die werden einfach nicht weiterkommen, in Vergessenheit geraten und weiterleiden. Die Zahl der Toten dürfte wohl auch hier zunehmen.»

Ob der IS mit der Machtübernahme der Taliban wieder Auftrieb bekommt, ob sogar neuer Terror in Europa befürchtet werden muss, könne man noch nicht beantworten, so Tilgner. «Theoretisch steigt das Risiko für Anschläge in Europa wohl», schätzt er. «Die Taliban haben Verbindungen zum IS und zu Al Kaida. Die werden sicher versuchen, ihre Zellen in Afghanistan aufzubauen.» Was das für Europa heisst, könne man wohl erst in einigen Jahren beantworten.

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