Teheran in der Krise
100 Tage nach dem Tod von Jina Mahsa Amini

Als die junge iranische Kurdin Jina Mahsa Amini vor 100 Tagen in einem Krankenhaus im Sterben liegt, haben viele Menschen im Iran bereits einen Verdacht.
Publiziert: 25.12.2022 um 10:09 Uhr
ARCHIV - Eine Demonstrantin hält in Berlin eine Abbildung der getöteten Kurdin Jina Mahsa Amini in die Höhe. Foto: Annette Riedl/dpa
Foto: Annette Riedl

Ein Foto, das die 22-Jährige mit Beatmungsschlauch und geschlossenen Augen auf einer Intensivstation in der Hauptstadt Teheran zeigt, verbreitet sich rasant. Viele Menschen gehen bereits davon aus, dass Amini nach ihrer Festnahme durch die Sittenwächter Gewalt erlitten haben muss. Die berüchtigte Moralpolizei hatte die Studentin nur drei Tage zuvor wegen eines schlecht sitzenden Kopftuchs mitgenommen. Sie stirbt, und am Tag nach ihrem Tod entladen sich Wut und Trauer in einer ersten Demonstration. Ausgehend von Aminis Heimatprovinz Kurdistan verbreiten sich die Proteste wie ein Lauffeuer im ganzen Land.

Drei Monate Proteste und ziviler Ungehorsam

Seit mehr als drei Monaten demonstrieren Menschen verschiedener Gesellschaftsschichten und Generationen nun bereits gegen die repressive Politik und das System der Islamischen Republik. Der Sicherheitsapparat reagiert mit äusserster Härte, mehr als 500 Demonstranten sollen nach Einschätzung von Menschenrechtlern bereits getötet worden sein. Die Anhänger der Proteste setzen sich teils auch gewaltsam zur Wehr. Auch wenn die Strassenproteste nach dem staatlichen Vorgehen jüngst etwas abgenommen haben, sprechen viele Expertinnen und Beobachter mittlerweile von einer «revolutionären Bewegung.»

Fatemeh Shams, Assistenzprofessorin an der University of Pennsylvania in den USA, bezeichnet die Proteste als «grösste Herausforderung für den Kern des derzeitigen Regimes und seiner Ideologie in den vergangenen 43 Jahren.» Hinter den Demonstrationen sieht sie einen grossen Unmut. «Ich glaube nicht, dass sie wussten, wie sehr sie den Kontakt zur wirklichen Gesellschaft, zu den wirklichen Menschen, zur neuen Generation verloren hatten. Und damit konfrontiert zu werden, war für sie ein grosser Schock.» Die Strassenproteste werden begleitet von kreativem Protest und zivilem Ungehorsam - Demonstranten schubsen etwa Mullahs die Turbane vom Kopf, füllen öffentliche Brunnen mit Kunstblut oder beschmieren Plakate einflussreicher Staatsmänner mit roter Farbe.

Politische Führung in Teheran folgt eisernem Kurs

Die Führung der Islamischen Republik setzt weiter auf einen harten Kurs gegen die Demonstranten. In den Kurdengebieten etwa gingen die Revolutionsgarden und die berüchtigten Basidsch-Milizen in gepanzerten Fahrzeugen mit scharfer Munition gegen Aufstände vor. Zahlreiche prominente Sportler, Künstler sowie Schauspielerinnen, die sich mit den Protesten solidarisieren, werden vorgeladen, verhört und inhaftiert. Teheran spricht von einer «ausländischen Verschwörung» und macht seine Erzfeinde USA und Israel für die Krise verantwortlich.

Politiker aus dem Reformlager, wie etwa Ex-Präsident Mohammed Chatami, sind um Kritik am repressiven Regierungskurs bemüht. Doch viele junge Demonstranten lehnen selbst moderatere Führungsfiguren als «Männer des Systems» ab. Von der politischen Staatsführung selbst sind keine Worte der Versöhnung zu hören. «Unter westlichen Politikern herrscht die falsche Vorstellung, dass die Reformparteien für die Rechte der Frauen gekämpft haben. Das ist falsch», sagt Shams. Sie weist darauf hin, dass ein Gesetz zur Gründung der berüchtigten Moralpolizei etwa unter Chatami verabschiedet wurde.

Internationale Reaktionen und Solidarität

Seit Beginn werden die Proteste von einer breiten Welle der internationalen Solidarität begleitet. Vor allem die grosse iranische Gemeinschaft im Ausland unterstützt die Kritik am Regierungskurs sowie die Forderungen nach einem politischen Systemwechsel im Iran. Viele westliche Regierungen im Ausland haben mit scharfer Kritik an Teheran eine Verschlechterung der bilateralen Beziehungen in Kauf genommen. Die Verhandlungen zur Wiederbelebung des Atomabkommens, das den Iran am Bau einer Atombombe hindern soll, liegen weiter auf Eis.

Hinrichtungen als Abschreckung

Die Exekution von zwei Demonstranten im Dezember hat im Iran und international breite Kritik und Fassungslosigkeit ausgelöst. Menschenrechtler sehen hinter den Hinrichtungen den Versuch, die Proteste durch Abschreckung zu ersticken. Die Urteile im Schnellverfahren stiessen jedoch auch in Teilen der religiösen und traditionellen Schicht im Iran auf grosse Ablehnung. «Selbst die Mehrheit der traditionellen, religiösen Bevölkerung des Landes ist entsetzt über die brutale Gewalt im Namen des Islam», erklärt die Expertin Shams. Auch islamische Prediger im Iran verurteilten die Hinrichtungen.

«Wir haben es heute mit einem Regime zu tun, das bei vielen verschiedenen sozialen Schichten, bei den neuen Generationen des Landes, bei den Frauen und bei der Mehrheit der männlichen Bürger sichtlich unpopulär ist», sagt Shams. Hoffnungen der Protestbewegung auf einen schnellen Systemwechsel sieht sie jedoch kritisch. «Wenn sie die Menschen dieses Mal völlig zum Schweigen bringen und die Welt das durchgehen lässt, würde das die Zivilgesellschaft in ihren Grundfesten erschüttern, weil die Menschen im Grunde nichts mehr zu verlieren hatten.»

(SDA)

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