Präsident Aschraf Ghani sprach am Samstag von einer schlimmen Lage. Nun stelle sich die «historische Aufgabe», den Tod weiterer Unschuldiger zu verhindern und die Errungenschaften für die Zivilgesellschaft der vergangenen 20 Jahre zu verteidigen. Westliche Staaten, darunter Deutschland, beschleunigten ihre Bemühungen, eigenes Personal und afghanische Ortskräfte vor den rasch vorrückenden Extremisten in Sicherheit zu bringen.
Seit der Entscheidung über den Abzug der internationalen Truppen, darunter auch der Bundeswehr, haben die Taliban grosse Teile des Landes erobert. Mittlerweile stehen 20 der 34 Provinzhauptstädte unter ihrer Kontrolle. Die Aufständischen wollen ein «Islamisches Emirat Afghanistan» errichten, so wie schon vor dem Einmarsch der US-Truppen im Jahr 2001.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) besprach am Samstag in einer Krisensitzung mit einem Teil ihres Kabinetts das weitere Vorgehen. In der telefonkonferenz wurde beraten, wie mit Hilfe der Bundeswehr schnellstmöglich Mitarbeiter der deutschen Botschaft, Ortskräfte sowie Beschäftigte deutscher Organisationen ausgeflogen werden können, wie ein Regierungssprecher mitteilte. Eine Beteiligung des Bundestags, der das entsprechende Mandat geben muss, werde folgen, versicherte er.
Die Bundeswehr begann schon mit Vorbereitungen für die Evakuierung. Zum Einsatz kommen sollen dabei nächste Woche vor allem Fallschirmjäger der Division Schnelle Kräfte (DSK); sie sind Teil der Nationalen Risiko- und Krisenvorsorge für diese Aufgabe.
In Afghanistan sind derzeit noch deutlich mehr als 100 Deutsche, darunter auch die Diplomaten und Mitarbeiter der Botschaft in Kabul sowie Experten anderer Ministerien und Organisationen. Die genaue Zahl der Ortskräfte ist noch unklar. So haben allein Organisationen aus dem Geschäftsbereich des Bundesentwicklungsministeriums derzeit noch mehr als 1000 einheimische Mitarbeiter in Afghanistan. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) sagte, es habe absolute Priorität, «dass wir die zu Schützenden sicher nach Deutschland bringen».
Ghani äusserte sich nach langem Schweigen in einer TV-Ansprache zur dramatischen militärischen Lage. Dabei ging er aber nicht auf Spekulationen ein, er könne zurücktreten, um den Weg für eine Einigung mit den Islamisten frei machen. Er spreche mit politischen Führern und internationalen Partnern und wolle «bald» Ergebnisse vorstellen, sagte er lediglich.
Die Taliban setzen derweil ihren schnellen Vormarsch fort: Nur etwa 35 Kilometer vor Kabul habe es am Morgen Gefechte um Maidan Schar gegeben, der Hauptstadt der Provinz Wardak, sagte die Abgeordnete Hamida Akbari der Deutschen Presse-Agentur. Die Taliban beherrschten bereits einen Grossteil der Provinz.
Auch in die Grossstadt Masar-i-Scharif, wo die Bundeswehr noch bis Juni ihr Hauptquartier hatte, versuchten die Taliban am Samstag einzudringen. Sie konnten aber nach Angaben örtlicher Politiker zurückgedrängt werden. Der Ex-Provinzgouverneur Mohammad Atta Nur und der frühere Kriegsfürst Abdul Raschid Dostum haben in der Nordprovinz Balch, in der Masar-i-Scharif liegt, eine Verteidigungslinie aufgebaut. Die Taliban haben umliegende Provinzen bereits eingenommen.
Landesweit gingen die Kämpfe am Samstag in mindestens fünf Provinzen weiter. Die militanten Islamisten konnten zwei kleine Provinzhauptstädte übernehmen: Scharana in der Provinz Paktika mit geschätzt 66 000 Einwohnern sei nach Vermittlung Ältester den Taliban kampflos übergeben worden, bestätigten lokale Behördenvertreter. Wenig später bestätigten mehrere lokale Behördenvertreter, dass Regierungsvertreter und Sicherheitskräfte auch Asadabad, die Hauptstadt der Provinz Kunar im Osten des Landes mit geschätzt 40 000 Einwohnern, verlassen hätten. Man habe so zivile Opfer und Zerstörung verhindern wollen.
Zuvor waren mit Herat und Kandahar bereits die dritt- und die zweitgrösste Stadt des Landes an die Islamisten gefallen. Mit Pul-i Alam in der Provinz Logar haben die Taliban auch eine Provinzhauptstadt rund 70 Kilometer südlich von Kabul eingenommen.
Das US-Aussenministerium kündigte an, dass die Verstärkung der US-Truppen um rund 3000 Soldaten bis Sonntag grösstenteils in Kabul sein werde. Sie sollen helfen, Personal ausser Landes zu bringen. Der britische Premier Boris Johnson sagte, Mitarbeiter der britischen Botschaft sollten Kabul binnen Tagen verlassen.
Frankreich will afghanischen Ortskräften und anderen gefährdeten Personengruppen unkompliziert Schutz in Frankreich gewähren. Als eines von nur drei Ländern stelle Frankreich weiterhin in Kabul Visa aus, hiess es am Freitagabend aus Élyséekreisen. Man bemühe sich ausserordentlich, afghanischen Künstlern, Journalisten und Vorkämpfern der Menschenrechte den Zugang nach Frankreich zu erleichtern.
(SDA)