Einen Tag zuvor hatte sie die Zahl der Todesopfer mit mindestens 1297 angegeben. Es wurden noch zahlreiche Menschen in den Trümmern der vielen zerstörten Gebäude im Süden des Landes vermutet. Die Lage der Überlebenden war nicht nur wegen fehlenden Zugangs zu medizinischer Versorgung dramatisch: Dem betroffenen Gebiet näherte sich nun auch noch ein Tropensturm.
Es regnete bereits am Montagabend (Ortszeit) stark im Erdbebengebiet auf der Tiburon-Halbinsel um die Städte Les Cayes und Jérémie. Laut US-Hurrikanzentrum wurde erwartet, dass das Zentrum des Tiefdruckgebiets «Grace» mit Windgeschwindigkeiten von etwa 55 Stundenkilometern in der Nacht über die Halbinsel zieht. Die US-Behörde warnte vor möglichen Überschwemmungen und Erdrutschen. Viele Überlebende übernachteten bisher im Freien.
Die haitianische Menschenrechtsorganisation RNDDH kritisierte den Umgang der Regierung mit der Katastrophe als «totales Chaos». «Sie sind völlig sich selbst überlassen», hiess es in Bezug auf die Erdbebenopfer. Einige suchten auf eigene Faust nach Zelten zum Schutz vor dem Unwetter. Vor personell unterbesetzten und schlecht ausgestatteten Krankenhäusern warteten verzweifelte Verletzte.
Interims-Premierminister Ariel Henry kündigte bei Twitter schnellere Arbeit an. «Wir werden unsere Energien verzehnfachen, um die grösstmögliche Zahl von Opfern zu erreichen und ihnen zu helfen», schrieb er. Für eine bessere Koordination der Massnahmen werde die Präsenz der Regierung vor Ort erhöht. Henry ordnete auch drei Tage Staatstrauer in dem leidgeplagten Land an.
Sorgen bereitete ausserdem, dass durch Bandengewalt die Fernstrasse, die die Hauptstadt Port-au-Prince mit Haitis Süden verbindet, häufig unpassierbar wird - das könnte die Lieferung von Hilfsgütern erschweren. Banden kämpfen miteinander um Kontrolle über Gebiete in Port-au-Prince. Die Gewalt trieb allein im Juni nach UN-Zahlen rund 15 000 Menschen in die Flucht.
Das Beben der Stärke 7,2 hatte sich am Samstagmorgen (Ortszeit) rund zwölf Kilometer von der Gemeinde Saint-Louis-du-Sud entfernt in einer Tiefe von rund zehn Kilometern ereignet. Mindestens 13 700 Häuser wurden nach Angaben der Zivilschutzbehörde zerstört und ebenso viele beschädigt. Mehr als 30 000 Familien seien betroffen. Laut Caritas International werden vor allem Nahrung, Trinkwasser, Zelte und medizinische Erstversorgung benötigt.
Haiti war auch nach dem verheerenden Erdbeben von 2010 mit mehr als 220 000 Toten schlecht auf eine ähnliche Katastrophe vorbereitet. Von dem Geld, das damals für den Wiederaufbau aus dem Ausland zugesagt worden war, sahen durchschnittliche Haitianer wenig - ein grosser Teil verschwand infolge von Verschwendung und Korruption.
Haitis ohnehin schwer unterfinanziertes Gesundheitssystem ist durch die sich zuletzt verschlimmernde Pandemie überstrapaziert. Bis es Mitte Juli eine Spende aus den USA erhielt, hatte das Land als einziges in Amerika noch keinen Corona-Impfstoff. Auch hier spielt die Bandengewalt eine Rolle: Eine Notfallklinik der Organisation Ärzte ohne Grenzen in Port-au-Prince wurde geschlossen, nachdem auf sie geschossen worden war. Hinzu kommt eine tiefe politische Krise, die sich nach der Ermordung des Staatspräsidenten Jovenel Moïse durch eine Kommandotruppe in seiner Residenz am 7. Juli verschärfte. (SDA)