Streit um Superspreader-Anlässe
Ist es asozial, jetzt protestieren zu gehen?

Die neue Lust am Strassenprotest könnte neue Corona-Wellen auslösen. Doch sollte man deswegen nicht demonstrieren? BLICK hat Protestforscher, Ärzte und Ethiker gefragt.
Publiziert: 16.06.2020 um 19:21 Uhr
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Aktualisiert: 22.09.2020 um 09:27 Uhr
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Am Wochenende marschierten in Zürich 10'000 Menschen gegen Rassismus.
Foto: keystone-sda.ch
Fabienne Kinzelmann

Für Daniel Koch war das letzte Wochenende vermutlich ein Alptraum. Zumindest war es das aus epidemiologischer Sicht: Tausende gingen gegen Rassismus oder für Gleichberechtigung in der Schweiz auf die Strasse.

Bei der unbewilligten «Black Lives Matter»-Demo am Samstag in Zürich marschierten gar 10'000 Menschen. Gefährlich dicht drängte sich die Protestmasse, viele trugen keine Schutzmaske.

«Veranstaltungen mit mehr als 300 Personen sind gemäss Bundesrat derzeit (...) einfach illegal», erinnert der Zürcher Regierungsrat Mario Fehr (SP) drei Tage darauf in der «NZZ» an das Versammlungsverbot. Er fordert eine konsequente Durchsetzung der noch immer geltenden Corona-Massnahmen: «Es darf nicht sein, dass am Schluss der Eindruck bleibt, es werde mit unterschiedlichen Ellen gemessen – bei einer Demo durch die Stadt so, beim Bäcker oder Coiffeur im Quartier anders.»

Mit den Lockerungen wächst die Lust am Protest

Doch mit den Lockerungen wächst offenbar weltweit die Lust am Protest. Ob Schwarze in den USA, Gelbwesten in Frankreich, die Demokratiebewegung in Hongkong: Alle gehen sie gerade auf den Strassen.

Aber: Darf man das? Ist das zu Corona-Zeiten vertretbar? Eine knifflige Frage, an der sich auch die Expertengeister scheiden.

«Demokratietheoretisch war es immer problematisch, dass Protest in der Corona-Krise nicht erlaubt war», sagt der Protestforscher Philipp Balsiger von der Université de Neuchâtel zu BLICK. Die Corona-Massnahmen hätten weltweit Grundrechte eingeschränkt. Alternative Protestformen – etwa wie die Klimajugend es online gemacht hat – können den Strassenprotest nicht komplett ersetzen, sagt der Experte.

Mit den Lockerungen sei es verständlicherweise schwieriger, ein komplettes Protestverbot durchzusetzen. «Es ist schon wichtig, dass man protestieren darf.» Doch ob es auch aus medizinischer und epidemiologischer Sicht gut sei: Das stehe auf einem anderen Blatt.

«Es ist wirklich eine Zwickmühle»

Beim Massenprotest sind wie beim Clubbesuch die Abstandsregeln am schlechtesten einzuhalten. «Die Grundmassnahmen sind das Rückgrat der Strategie, werden diese nicht eingehalten, bricht es. Es geht nicht um Absurdität, sondern um Kohärenz an allen Orten», sagt Epidemiologe Marcel Tanner, Mitglied der Task Force Covid-19 und Präsident Akademien der Wissenschaften Schweiz, in der «AZ».

Die Angst vor Massendemonstrationen als «Superspreading-Events» ist gross. Selbst Schutzmasken könnten angesichts engagierter Protestrufe und Gesängen nutzlos sein, befürchtete etwa Trumps Corona-Koordinatorin Deborah Birx.

«Es ist wirklich eine Zwickmühle. Es besteht ja das Recht auf Meinungsäusserungsfreiheit und es handelt sich um gerechtfertigte Proteste», sagt Michelle Salathé, Leiterin des Ressort «Ethik» der Schweizerischen Akademie der Wissenschaften, zu BLICK.

Balanceakt zwischen Grundrecht und Rücksicht

Ein Vorteil könnte sein, dass der Protest – etwa im Vergleich zu einem Clubbesuch – im freien stattfindet. «Die Gefahr einer Ansteckung scheint im Freien deutlich kleiner zu sein, weil Aerosole eine geringere Rolle spielen als in geschlossenen Räumen. Aber Teilnehmende von Demos kommen sich physisch ja oft nahe», analysiert Salathé. Die Rechnung ist offensichtlich: «Je grösser die Anzahl Personen, die teilnehmen und umso «ungeregelter» diese sind, umso grösser ist auch die Gefahr, dass sich das Virus wieder verbreitet.»

Der Balanceakt zwischen dem Recht auf Meinungsäusserung und Rücksicht zugunsten der Gesellschaft ist schmal. «Letztlich ist es eine Güterabwägung, die jede und jeder für sich treffen muss», sagt die Ethikerin Salathé. «Ist mir der Protest für ein zentrales Anliegen wichtiger als mein gesundheitlicher Schutz beziehungsweise der Schutz meines Umfeldes und damit die Beachtung oder Missachtung der geltenden Regeln und Empfehlungen des BAG?»

Kreative Lösungen ersetzen Verbote

Es gibt aber noch eine Möglichkeit. Berlin hat sie gerade vorgemacht: Bei der «Unteilbar»-Demo spannten die laut Polizeiangaben rund 8000 Teilnehmer am Sonntag ein «Band der Solidarität» durch die Stadt, an dem sie sich abstandskonform festhielten.

Eine Idee, die etwa die Medizinethikerin Tanja Krones begeistert. «Demonstrationen sind ein ganz wichtiges, demokratisches Recht. Die Frage ist doch eigentlich: Wie kann man das von Bund-Seite aus unterstützen?»

Auf die Zusammenarbeit mit den Veranstaltern komme es an. «Zwischen einem Versammlungsverbot und dem Bedürfnis der Menschen, für ihre legitimen Anliegen auf die Strasse zu gehen, gibt es genügend Platz für kreative Lösungen», sagt die Medizinethikerin vom Universitätsspital Zürich zu BLICK. «Und dann sollte man das auch zulassen.»

Das macht harte Verbote – wie etwa vom Zürcher Regierungsrat Mario Fehr gefordert – vielleicht auch überflüssig. Und lässt Epidemiologen wie Daniel Koch auch dann ruhig schlafen, wenn Tausende auf die Strasse gehen.

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