Die deutschen Parteien lassen kurz vor dem Ende des Wahlkampfs wenig unversucht, um die noch Unentschlossenen zu überzeugen. Einige Berliner bekamen es sogar mit Cédric Wermuth (35) zu tun. Zusammen mit seinem Partei- und Nationalratskollegen Jon Pult (36) warb der Co-Präsident der SP Schweiz gestern Samstag für Annika Klose und Mathias Schulz, SPD-Kandidaten in Berlin-Mitte. Man kenne sich schon lange, erklärt Wermuth den Ausflug. Und klar: Jetzt, da die deutsche Sozialdemokratie stärker scheint als in den Jahren zuvor, fällt die internationale Solidarität noch etwas leichter als sonst.
Die Chancen stehen gut, dass heute um 18 Uhr, wenn die erste Prognose eintrifft, die «Sozen» wieder einmal Grund zum Feiern haben werden. Gemäss Umfragen könnten sie sogar stärkste Partei werden. Diese Ausgangslage allein ist eine kleine Sensation. Denn als die Partei Olaf Scholz (63) im Frühjahr zum Spitzenkandidaten kürte, brach kaum Jubel aus. Scholz gehörte zur Mannschaft des Altkanzlers Gerhard Schröder, unter dessen Führung sich die Partei eine wirtschaftspolitische Liberalisierung verpasste, die dem Land den Aufschwung und der Partei den Niedergang bescherte. Vor zwei Jahren wählte ihn die Basis noch nicht einmal zum Parteichef. Zahlreiche Schweizer Genossen, die meist weiter links stehen als der Realo aus Hamburg, sahen sich bestätigt: So wie der Scholz dürfe die SP niemals werden.
Aus Kritik wird Lob
Wie anders tönt es heute. Roger Nordmann (48, VD), Fraktionschef der SP im Bundeshaus, betont, dass der Scholz von heute wenig gemein habe mit dem Scholz von früher. Stattdessen sei es ihm und der Partei gelungen, die chronisch zerstrittenen Flügel zu einen. Auch in der Schweiz gelinge die Integration immer besser. «Mattea Meyer und Cédric Wermuth stammen aus dem linken Flügel, achten aber genau darauf, die Partei als Ganzes mitzunehmen.» Das merke er als Moderater, sagt Nordmann.
So avanciert ausgerechnet ein spröder Hanseat zum roten Hoffnungsträger, weit über die deutschen Landesgrenzen hinaus. Scholz sei ein beeindruckender Wahlkampf gelungen, stellt Wermuth fest. «Er stellt den Begriff des Respekts ins Zentrum seiner Kampagne und zeigt, dass gesellschaftspolitische Anliegen und die soziale Frage eben keine Gegensätze markieren.» Respekt bedeute, dass homosexuelle Menschen nicht diskriminiert werden. «Und für den Bauarbeiter heisst Respekt, dass er nach einem harten Berufsleben anständig von seiner Rente leben kann.» Für beides stehe die Sozialdemokratie. Handwerklich habe er in den letzten Jahren kaum eine bessere Kampagne gesehen, zeigt sich der SP-Chef beeindruckt. Schlichte Plakate, die klare politische Inhalte transportieren und die konkreten Probleme der Deutschen ansprechen. Die hohen Mieten in den Städten etwa oder die Steuerfrage. «Scholz sagte im Mai zu mir, dass er diesen Kurs beibehalten wolle», so Wermuth. «Kein Hype, sondern beharrlich die Positionen erklären, die man für richtig hält. Damals stand die SPD in Umfragen bei 15 Prozent. Nun zahlt sich diese Beständigkeit aus.» Kassensturz ist heute Abend, 18 Uhr.