Schon im Flugzeug bereut er seine Entscheidung. Ramadan Gashi blickt von oben auf seine Heimat, den Kosovo – und sieht vor allem Ruinen. Es ist das Jahr 2000, der Kosovo-Krieg ist seit 1999 zu Ende. Die 3000 Franken in seiner Tasche werden nicht reichen, so viel ist jetzt schon klar. Neben ihm sitzen seine Frau Neriman und die Kinder: Familie Gashi kehrt zurück.
Der Bundesrat hatte den über 50'000 Kosovo-Flüchtlingen ein Angebot gemacht: Rückkehr gegen Geld. Wer die Schweiz freiwillig verliess, erhielt rund 2000 Franken Startkapital sowie eine Materialhilfe vor Ort. Damit wollte der Bund Zwangsausschaffungen unnötig machen – eine Schweizer Lösung: man will lieber kein Theater, dafür lässt man ein paar Franken springen. Über 30'000 Menschen nahmen das Angebot an und machten sich auf den Rückweg.
19 Jahre später auf einem Hügel am Rande Pristinas. Es ist eisig, es schneit, manchmal stinkt es nach verbranntem Plastik, weil manche alles verheizen, was sie finden können. Die Zufahrt zum Block, in dem Familie Gashi wohnt, ist mehr Pfütze als Strasse, ein brauner See mit gefrorenen Rändern. Der Wind zieht durchs Treppenhaus des Neubaus, der genau genommen bereits eine Ruine ist. Man ahnt: In der Wohnung dort oben wartet keine Erfolgsstory.
Das Ehepaar Gashi sitzt auf dem Sofa, zwei hagere Menschen, lächelnd, aber vom Leben gezeichnet. Im Hintergrund läuft lautlos der Fernseher, eine Show, in der Glücksfeen Lose aus einer Wanne fischen. «Ich denke oft an die Schweiz», sagt Ramadan Gashi. Neriman schweigt. Zwei Schlaganfälle haben ihr die Stimme geraubt, nun spricht sie mit den Augen.
In der Vierzimmerwohnung leben sieben Menschen, drei Generationen. Zum Ehepaar Gashi kommen Sohn Blerim (34) samt Frau und drei Kindern. Die haben gerade schulfrei: seit drei Wochen streiken die Lehrer. Die Männer sind arbeitslos, schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durch, alle zusammen leben von 250 Euro im Monat. Der Startbatzen aus der Schweiz war bald aufgebraucht.
Ramadan Gashi will kein schlechtes Wort über das Land verlieren, das ihnen damals Schutz gewährte. Dankbar seien sie, die sechs Jahre im Thurgau seien die schönsten überhaupt gewesen.
Sohn musste Bäckerlehre abbrechen
Nur was die Rückkehr angeht, da fühlt er sich ungerecht behandelt, denn eine wirkliche Wahl sei das nicht gewesen: «Entweder ihr geht freiwillig oder die Polizei kommt euch holen», habe es geheissen. Ein Übersetzer war nicht dabei, die Drohkulisse wirkte: «Ich wollte keine Szene mit der Polizei, die Kinder waren noch klein.»
Manche Familien wehrten sich, wurden trotzdem abgeschoben, ohne Startgeld, andere konnten bleiben. Familie Gashi wählte den Spatz in der Hand. Die Töchter wurden aus der Schule genommen, der Sohn musste seine Bäckerlehre abbrechen.
Vor Jahren besuchte Micheline Calmy-Rey Rückkehrer, die Einschätzung der damaligen Bundesrätin gilt bis heute: «Sie haben nicht immer Erfolg, die Situation ist schwierig. In Kosovo herrscht Arbeitslosigkeit, die Leute haben keine Perspektive.»
2015 mischten sich Tausende unter den Flüchtlingsstrom, verzweifelt wegen Arbeitslosigkeit, Armut und Korruption. Doch sie kamen aus einem sicheren Herkunftsland: Keine Chance auf Asyl.
Nach zwei Jahren hielt es Gashi nicht mehr aus, er machte sich illegal wieder auf in die Schweiz, beantragte Asyl, verstiess gegen die Abmachung: «Man drohte mir mit fünf Jahren Gefängnis, wenn ich nochmals einreise!»
Nächstes Jahr bekommen sie Rente, je 170 Euro, darauf ruhen die Hoffnungen der Gashis. Sohn Blerim (34) möchte noch immer zurück, sein Deutsch hat er verlernt. Tochter Blerina (32) spricht Thurgauer Dialekt, sieht ihre Zukunft aber im Kosovo.
Gashi sieht für seine Enkel wenig Perspektiven in seinem Land: «Im Kosovo steht Korruption an erster Stelle! Hier gibt es keine Industrie. Keine Fabriken. Nichts wird hergestellt. Fast alles wird importiert.»
Ramadan Gashi, der eher zurückhaltend und bescheiden wirkt, kann seinen Frust und Ärger über die Umstände in seinem Land nicht mehr zurückhalten: «Lassen Sie sich von den Villen und den schönen, teuren Autos nicht in die Irre führen: Ein grosser Anteil der Bevölkerung hat kaum was zu essen! Wo ist das viele Geld, das aus dem Ausland in den Kosovo für den Wiederaufbau fliesst?»
Gashi zeigt auf seine Enkel, die gespannt dem Geschehen im Wohnzimmer zusehen und von dem Kamerateam sichtlich beeindruckt sind: «Die Kinder haben seit Wochen keinen Unterricht mehr besuchen können, weil die Lehrer allesamt streiken. Sie verlangen mehr Lohn. Und selbst wenn sie in die Schule gehen, der Unterricht ist auf tiefstem Niveau und die Kinder verbringen nur wenige Stunden am Tag in der Schule.»
Das sei aber nicht das Problem der elitären Politiker. Die würden ihre Kinder sowieso in exklusiven Privatschulen schicken.
«Regierung ist gescheitert»
Es gibt auch Rückkehrer, denen es besser erging. Zum Beispiel Shpresa Qosa (45), die im Nationalen Kunstmuseum gerade das Bild einer pinkelnden Frau betrachtet.
Das Werk aus der Ausstellung «Burrneshat» nimmt das Patriarchat auf die Schippe – ein kontroverses Thema in der Machogesellschaft des Balkanlandes. Die Schau ist Stadtgespräch, ein internationales Publikum ist anwesend, ältere Anzugträger trinken Weisswein mit bärtigen Kunststudenten, sogar das Fernsehen ist da. Mittendrin Rückkehrerin Qosa: «Ich fühle mich wohl, wo ich lebe», sagt sie.
Die Alleinerziehende vermietet in Pristinas Stadtzentrum Wohnungen an Touristen. Alles läuft online. Das Gute an ihrem Geschäft sei, dass man wenig mit dem Staat zu tun habe. Denn die Regierung, das müsse man nach rund zwanzig Jahren sagen, sei leider gescheitert. Shpresa Qosa: «Darum wollen die jungen Leute auch alle weg.»
Sie selber war als junge Frau zweimal in der Schweiz, arbeitete als Babysitterin und im Büro. Während des Krieges lebte sie in Deutschland und wurde dort auch eingebürgert. «Ich wollte aber immer zurück und sparte Geld, um die Familie zu unterstützen.»
Nach dem Krieg begann sie für die internationale Verwaltung zu arbeiten, und sie sparte weiter, bis sie sich irgendwann eine Wohnung kaufen konnte: «Es ist ein tolles Gefühl, selber was zu erreichen.» Nebenbei handelt sie mit Aktien, gelegentlich überprüft sie auf ihrem Handy die Aktienkurse: «Ich investiere nur ins Ausland.»
Sie lacht: Kosovarische Staatsanleihen wären ihr dann doch ein zu grosses Risiko.
Abends in der ersten Fussgängerzone der Hauptstadt, junge Menschen verteilen Werbebroschüren. Gesucht werden Mitarbeiter für ein Callcenter. Wichtigste Jobanforderung: Deutsch. Es sind jene Telefonisten, die dann den Schweizern, Deutschen und Österreichern unbedingt beim sparen ihrer Krankenkassenprämien helfen wollen. Callcenter schiessen hier wie Pilze aus dem Boden, das Angebot an möglichen deutschsprachigen Mitarbeitern ist gross.
«Für eine volle Transparenz!»
Dardan Ibrahimi (31), Vollbart, ein Bär von einem Mann, steht hinter dem Tresen seiner Bar «Miqt», was Freunde heisst. Der Gastronom ist Mitgründer der «Partia e Fortë» (Die Starke Partei), einer parodistischen Bewegung, die seit den letzten Wahlen Kultstatus hat. Die jungen Aktivisten zielen auf die korrupte Elite des Landes. «Man muss Feuer mit Feuer bekämpfen», sagt Ibrahimi und seine satirischen Wahlslogans tönen dann so: «Immer am versprechen!» oder «Für eine volle Transparenz!».
Scheinbar gibt es im Kosovo zwei Arten sein Leben zu meistern: Man versucht zu verschwinden oder probiert es mit Ironie.