Damaskus, gestern Morgen um vier Uhr früh. Über der syrischen Hauptstadt steigt Rauch auf. Zum selben Zeitpunkt tritt in Washington – hier ist es später Abend – US-Präsident Donald Trump vor die Kameras. Die USA, Frankreich und Grossbritannien hätten Raketen gegen Syrien abgefeuert, sagt Trump. Die Angriffe seien die Vergeltung für den Einsatz chemischer Waffen durch das Regime von Bashar al-Assad vor einer Woche in Ost-Ghuta. «Es sind die Verbrechen eines Monsters», so Trump. SonntagsBlick beantwortet die wichtigsten Fragen zum Konflikt.
1. Was wurde angegriffen?
Der massive Militärschlag, den die Syrer nach den Drohungen von Trump am Donnerstag befürchteten, ist ausgeblieben. Die USA, Grossbritannien und Frankreich haben sich bei ihrem Angriff auf Anlagen des syrischen Chemiewaffenprogramms beschränkt: Ein Forschungszentrum in Damaskus sowie ein Lager für Ausgangsstoffe und fertige Chemiewaffen samt Kommandoposten in der Nähe der Stadt Homs. Es soll drei Verletzte gegeben haben.
2. Gibt es Beweise für den Giftgasangriff der syrischen Armee?
Washington, Paris und London wollen über eindeutige Beweise für die Verantwortung der syrischen Armee verfügen. Veröffentlicht haben sie dieses Material nicht. Assad und seine Beschützer im Kreml und in Teheran widersprechen vehement. Ihre wichtigsten «Beweise» für die Schuld islamistischer Rebellen sind aber bereits eindeutig als Fälschung enttarnt worden.
3. Welche Strategie verfolgt Trump in Syrien?
Trump wollte die USA immer aus dem Konflikt raushalten. Jetzt steckt er mittendrin. US-Truppen helfen der kurdischen YPG gegen die Terrorgruppe IS. Das von Moskau und Teheran unterstützte Assad-Regime aber lassen sie in Ruhe. Einmal verkündet Trump den baldigen Rückzug aller US-Soldaten aus Syrien – dann will er davon wieder nichts wissen. Seine Vision etwa für den Wiederaufbau des Landes? Das sollen andere übernehmen.
4. Wieso haben sich Grossbritannien und Frankreich den USA angeschlossen?
Die britische Ministerpräsidentin Theresa May und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron stehen innenpolitisch unter Druck. In London kann May ihre Brexit-Versprechungen nicht einlösen. Und der mutmasslich russische Nervengiftanschlag auf den ehemaligen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter zeigt, wie wenig Respekt der Kreml vor einem Grossbritannien ausserhalb der EU hat. Als Ablenkung konnte May die Syrienattacke also genauso gut gebrauchen wie Emmanuel Macron. Dem setzen an der Heimatfront die Gegner seiner Bildungsreform und die Gewerkschaften zu.
5. Was sind die Folgen für das Assad-Regime?
Syrien nannte die Angriffe eine «barbarische und brutale Aggression». Das Regime wirft dem Westen vor, mit den Angriffen die Untersuchungsmission der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OPCW) zu verhindern. Assad muss jedoch trotz des westlichen Militärschlags nicht um den Verlust seiner Macht fürchten. Solange er die Unterstützung von Russland und Iran geniesst, dürfte er sich halten. Theresa May sagte: «Es geht nicht um Regimewechsel.»
6. Besteht die Gefahr, dass der Konflikt zwischen dem Westen und Russland nun eskaliert?
Die Fronten verhärten sich. EU und Nato stellten sich hinter den Angriff. Der russische Botschafter in den USA sagte, solche Aktionen würden nicht ohne Konsequenzen bleiben. Wladimir Putin erklärte, bei dem Militärschlag handle es sich um einen Bruch des Völkerrechts. Das könne verheerende Auswirkungen auf die gesamten internationalen Beziehungen haben. Den harschen Worten zum Trotz scheint aber auch der Wille vorhanden zu sein, den Konflikt nicht vollkommen eskalieren zu lassen. Die USA machten deutlich, dass sie eine Konfrontation mit Russland verhindern wollten. Die Angriffe seien so geplant worden, dass das Risiko von Opfern unter russischen Einsatzkräften minimal gewesen sei, sagte US-Generalstabschef Joseph Dunford. Gestern Abend scheiterte Russland im Uno-Sicherheitsrat mit dem Versuch, eine Verurteilung der westlichen Raketenangriffe in Syrien zu erreichen.
7. Bedeutet der gemeinsame Angriff, dass USA und EU in Zukunft wieder harmonisch zusammenarbeiten?
Aller verbalen Solidarität zum Trotz: Im Umgang mit den Krisen im Nahen und Mittleren Osten bleibt Europa gespalten. Weil sie in ihrem Wertestreit mit der EU auf politische Hilfe aus Washington hoffen, unterstützen zum Beispiel Ungarn und Polen die antirussische Drohpolitik der USA. Westeuropa dagegen beharrt auf diplomatischen Lösungen.
8. Iran hat offen mit Vergeltung gedroht. Was bedeutet das?
Ayatollah Ali Chamenei, das geistliche Oberhaupt des Landes, hat die Staats- und Regierungschefs der USA, Grossbritanniens und Frankreichs nach den Angriffen als «Kriminelle» bezeichnet. Ein Sprecher des Aussenministeriums in Teheran warnte vor «regionalen Konsequenzen». Die meisten politischen Beobachter gehen aber davon aus, dass es bei einem verbalen Schlagabtausch bleiben wird.
9. Wo steht die Türkei?
Die Rolle der Türken ist kompliziert: Einerseits unterstützten sie syrische Rebellen im Kampf gegen Assad. Andererseits bekämpfen sie die Gründung eines kurdischen Staats im Nordosten von Syrien. In den vergangenen Monaten arbeitete die Türkei zudem eng mit Russland zusammen. Trotzdem begrüsst die Türkei die Luftangriffe der Westmächte als «angemessene Antwort auf den Chemiewaffenangriff».
10. Im Syrien-Krieg wurden bereits über eine halbe Million Menschen abgeschlachtet. Wieso greift der Westen erst nach dem mutmasslichen Einsatz von Chemiewaffen ein?
Chemische Waffen gelten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die zu bekämpfen die UN-Charta ausdrücklich erlaubt. Die Giftgasopfer machen weniger als ein halbes Prozent aller syrischen Kriegstoten aus. Für sie sind jetzt schon zum zweiten Mal Cruise-Missiles geflogen. Aber über 500'000 Menschen starben seit 2011 durch Fassbomben und Artilleriefeuer auf Schulen, Krankenhäuser, Basare und Dörfer. Ihr Tod bleibt ungesühnt.