Vaalimaa wäre ein Ort, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen – wäre da nicht dieser Grenzübergang zwischen Finnland und Russland. Die dicke E18, die Verbindung zwischen Helsinki und Sankt Petersburg, zwängt sich hier durch nüchterne Bauten des Grenzschutzes und des Zolls. Es ist der grösste Grenzübergang zwischen den beiden Ländern.
Seit die Russen die Ukraine überfallen haben, ist in Vaalimaa vieles ein wenig anders. Der erste Strassengrenzübergang zwischen Finnland und der ehemaligen Sowjetunion, der 1958 eröffnet worden war, war berüchtigt für seine langen Staus. Stundenlanges Warten war normal, vor allem wegen der akribischen Kontrollen auf russischer Seite. An Weihnachten 2007 bildete sich sogar eine rund 50 Kilometer lange Lastwagenkolonne.
Heute tröpfeln Autos durch die Kontrolle, die Wartezeit beträgt auf finnischer Seite vielleicht eine Viertelstunde, weil jede Person im Gebäude kontrolliert wird. «Seit Ausbruch des Kriegs und seit den Restriktionen für russische Touristen verzeichnen wir an Werktagen rund 1500 bis 1800 Grenzübertritte, an Wochenenden etwa 2000 bis 2300. Vor der Pandemie waren es rund dreimal mehr», sagt der aus Espoo bei Helsinki stammende Leutnant Markus Haapasaari (24) vom südostfinnischen Grenzschutz.
Viele ukrainische Flüchtlinge
Nach Kriegsausbruch registrierte der Grenzschutz viele ukrainische Flüchtlinge, die über diesen Weg in den Westen flohen. Aber auch Russen, die Krieg und Mobilisierung entfliehen wollten, befanden sich darunter.
Die Anzahl Grenzübertritte ging weiter zurück, als Finnland im Oktober 2022 beschloss, keine russischen Touristen mehr ins Land zu lassen. Seither kommen nur noch russische Staatsbürger, die in Finnland arbeiten, studieren, ihr Ferienhaus unterhalten müssen, Familienangehörige besuchen oder eine andere Spezialbewilligung haben.
Russen auf langen Reisen
Da es zwischen Russland und dem Westen keine Flugverbindungen mehr gibt, ist Vaalimaa für viele Russinnen und Russen zum Tor nach Europa geworden. «Bisher legte ich den Weg von meinem Wohnort Moskau zu meinem Zweitsitz in Berlin jeweils mit dem Flugzeug via Istanbul zurück», sagt der russisch-israelische Unternehmer Alexander Goldmann (63). Jetzt lässt er sich von einem Begleiter im finnischen Auto in den Westen chauffieren.
Alexandra Grigorian (35) fährt mit dem Bus nach Helsinki, um da per Flugzeug nach Frankreich zu fliegen. «Ich werde da ein Jahr lang Luxus- und Fashionmanagement studieren», sagt sie. Mit dem gleichen Bus reist auch die Russin Kate (35), die vor vier Monaten mit ihrem Mann wegen dessen Job nach Schweden gezogen ist. «Die Reise ist sehr beschwerlich. Ich bin 24 Stunden auf der Strasse unterwegs», sagt sie. Elena Goslowskaja (57) kennt diese Strecke inzwischen bestens: «Ich gehe oft meine Tochter besuchen, die in Helsinki studiert.
In die andere Richtung ist Sergej (47) mit seiner neuen Ehefrau und deren Sohn unterwegs. Er ist mit zehn Jahren aus Sibirien ausgewandert und heute deutscher Staatsbürger. «Wir sind unterwegs, um meinen kranken Vater zu besuchen», sagt er. Zuerst die Fähre, jetzt kilometerlange Strassen: Er habe noch rund 13 Stunden Fahrt vor sich. Angst und Mühsal kennt er nicht: «Ich bin Christ. Gott führt mich.»
Über den Krieg und den Nato-Beitritt Finnlands, der am Dienstag just in diesen Stunden in Brüssel unterschrieben wird, will sich von den von Blick befragten Reisenden niemand äussern. Alles, was Goldmann noch sagt, ist: «Das Leben in Moskau hat sich kaum verändert – höchstens mental.»
Guter Kontakt zu russischen Kollegen
Personen, die kein Visum für Finnland haben, werden zurückgeschickt. «Als wir die Restriktionen einführten, waren es im Oktober rund 700 Rückweisungen, was Rekord bedeutete», sagt Haapasaari. Inzwischen seien es noch rund 120 pro Tag. Auch in die andere Richtung wird Personen die Ausreise verwehrt, wenn die Dokumente nicht stimmen. Freundlich, aber bestimmt weisen finnische Grenzschutzbeamte Frauen zurück, die ein Papier in der Hand halten. Warum? «Diskretion. Wir können nichts sagen», antworten die Angestellten.
Für den Grenzschutz arbeiten in Vaalimaa total 140 Personen, von denen jeweils etwa 30 im Einsatz stehen. Weitere 100 Angestellte arbeiten für den Zoll. Hunde und Drohnen, um illegale Grenzüberschreitungen festzustellen, gehören ebenfalls zur Ausrüstung in Vaalimaa. «Wir stehen in gutem Kontakt mit unseren russischen Kollegen und können uns gegenseitig rund um die Uhr anrufen», sagt Haapasaari, der selber als Tourist noch nie auf der anderen Seite der Grenze stand. Und er fügt an: «Wir reden nur über Themen, die die Grenzsicherheit betreffen.»
Das Geister-Shoppingcenter
Vaalimaa sollte sich vor wenigen Jahren zu einem Zentrum für russische Shopping-Touristen entwickeln. 2018 wurde das Outlet Zsar eröffnet, das aber nie auf Touren kam. 2022 meldete es nach Covid und Kriegsausbruch Konkurs an. Seither ist es geschlossen, Zufahrt und Parkplätze liegen unter Schnee. Die Taue der leeren Fahnenstangen schlagen im Wind. Noch immer prangen Plakate und Schilder des Schweizer Schoggiherstellers Lindt an den Wänden und hinter verschlossenen Gittern. Wann hier wieder Leben einkehrt? Die Investoren müssen ihre Millionen wohl für immer abschreiben.
Im Norden von Vaalimaa haben die Finnen mit dem Bau eines Grenzzauns begonnen. Damit sollen mittelfristig 200 der insgesamt 1340 Kilometer langen gemeinsamen Grenze gesichert werden. Kosten: 380 Millionen Euro. Nach Waldrodungen wird zurzeit am drei Kilometer langen Pilotzaun bei Imatra gearbeitet. Weitere 70 Kilometer sollen bis 2025 errichtet werden. Die neuen Zäune werden drei Meter hoch und sind mit Stacheldraht versehen. An neuralgischen Orten werden auch Nachtsichtkameras, Lampen und Lautsprecher montiert.
Wie der finnische Grenzschutz auf Anfrage mitteilt, gibt es auch einen Ausbau der Überwachungs-, Kontroll-, Such- und Rettungskapazitäten. Dafür sollen die Anzahl Mitarbeiter erhöht sowie neue Überwachungsflugzeuge und Patrouillenboote angeschafft werden.
Warnung vor der Grenzzone
Obwohl die russische Grenze erst einen Kilometer hinter dem Grenzposten von Vaalimaa liegt, lässt die Grenzwache keine Medien zu diesem Punkt fahren. «Wir haben das abgemacht, weil es viele Anfragen von Journalisten gibt, die so nahe wie möglich an die Grenze heranfahren möchten», sagt Haapasaari.
Dennoch gibt es eine Möglichkeit, sich Russland auf einer öffentlichen Strasse bis auf einen Steinwurf zu nähern. Zwei Kilometer südlich von Vaalimaa liegt Kurkela. Das sind eine Handvoll Häuser und Schuppen, die am Vaalimaanjoki liegen. Auf der andern Seite des 80 Meter langen Weihers, der sich durch den gestauten Bach bildet, liegt das erste Haus auf russischer Seite. Zu sehen sind eine Wellblech- und eine Holzfassade. Was drin ist – unbekannt.
Es ist kein Mensch zu sehen. Es würde Idylle herrschen, wären da nicht die vielen gelben Schilder und die Hinweise auf Kameraüberwachung im benachbarten Wald: «Grenzzone, Eintritt ohne entsprechende Erlaubnis verboten.» Haapasaari hatte gewarnt: Wer in die Grenzzone eindringt, wird schnell von den finnischen Grenzbeamten aufgespürt und bestraft. Wer es dennoch weiter schafft, bekommt es mit den Russen zu tun. Was dann passiert? Ebenfalls unbekannt. Bekanntlich haben die Russen ihre eigenen Gesetze.