Bei Protesten gegen Brasiliens Präsidenten Michel Temer haben aufgebrachte Demonstranten Feuer im Agrarministerium gelegt und in weiteren Ministerien für Verwüstungen gesorgt.
Schwarze Rauchwolken standen über dem Regierungsviertel in Brasilia, nach Angaben der Polizei hatten sich 35'000 Menschen dort versammelt. Die Polizei setzte Tränengas ein, mehrere Ministerien wurden evakuiert.
Verteidigungsminister Raul Jungmann sagte, Präsident Temer habe den Einsatz das Militärs angeordnet, um Regierungsgebäude zu schützen. Als das in der laufenden Kongresssitzung bekannt wurde, kam es zu tumultartigen Szenen und Handgreiflichkeiten, die Opposition um die linke Arbeiterpartei warf Temer eine Eskalation und Militarisierung vor. Insgesamt sollen in Brasilia 1500 Soldaten eingesetzt werden.
Die Demonstranten fordern Temers Rücktritt und rasche Neuwahlen. Rund 30 Menschen sollen Berichten zufolge verletzt worden sein.
Schlinge zieht sich zu
Erst nach mehreren Stunden beruhigte sich die Lage am Mittwochabend (Ortszeit) - aber für Temer wird die Lage immer brenzliger. Tasso Jereissati, Interimschef der Sozialdemokraten (PSDB), des grössten Koalitionspartners, vermied ein Bekenntnis zu dem durch einen neuen Korruptionsskandal schwer in Bedrängnis geratenen Politiker.
Die Proteste in Brasilia waren die heftigsten seit langem. Überall gab es kleine Feuer, viele Scheiben in Ministerien gingen zu Bruch, die Polizei setzte Tränengas ein. In der von dem Architekten Oscar Niemeyer geplanten Hauptstadt sind alle Ministerien und der Kongress rund um eine grosse Fläche, die Esplanada dos Ministérios, angeordnet, auf der sich die Menschen versammelten und «Temer raus» skandierten.
Aufgerufen zu den Protesten hatten Gewerkschaften und soziale Bewegungen. Temer hatte 2016 die des Amtes enthobene linke Präsidentin Dilma Rousseff abgelöst - er hatte sich als ihr Vizepräsident mit der Opposition verbündet und so die notwendigen Mehrheit für die Absetzung erreicht. In sozialen Netzwerken war die Rede davon, dass sich der «Putschist» nun auf das Militär stütze.
Der Protest richtet sich auch gegen eine Reform, die eine Ausweitung von Arbeitszeiten, Beschneidung der Mitsprache von Gewerkschaften und die Zahlung von Kosten bei Arbeitsprozessen durch die Angestellten vorsieht. Als «Brandbeschleuniger» der Proteste gegen den 76-Jährigen wirkte aber ein letzte Woche publik gewordener Mitschnitt.
Heimlicher Mitschnitt
Dabei geht es um ein Gespräch zwischen Temer und dem Besitzer des weltgrössten Fleischkonzerns JBS, Joesley Batista, der heimlich alles aufgezeichnet hatte. JBS soll über Jahre Politiker bestochen haben - Batista zahlte rund 66 Millionen Franken in einem Vergleich und packte aus.
Die Aufnahmen nähren den Verdacht von Schweigegeldabsprachen, damit Ex-Parlamentspräsident Eduardo Cunha, der bereits im Gefängnis sitzt, nicht sein Wissen über das ganze Korruptionsnetzwerk preisgibt. Temer soll zudem für seine letzte Wahlkampagne von JBS 15 Millionen Reais (4,3 Millionen Franken) erhalten und eine Million Reais davon in die eigene Tasche gesteckt haben. Temer lehnt einen Rücktritt ab, aber es kursieren bereits Nachfolgekandidaten wie Joaquim Barbosa, der der erste afrobrasilianische Präsident des Obersten Gerichtshofs war.
Temers Schicksal hängt derzeit vor allem an der Entscheidung seiner Koalitionspartner. Der neuntgrössten Volkswirtschaft droht durch den Skandal eine Hängepartie, zu einem Zeitpunkt, wo man langsam die tiefe Rezession überwindet - seit 2015 brach die Wirtschaftsleistung um 7,4 Prozent ein. 13,5 Millionen Menschen sind arbeitslos. In Städten wie Rio de Janeiro haben Gewalt und Unsicherheit stark zugenommen.
Sagenhafter Aufstieg
Nach den Korruptionsskandalen um den Erdölkonzern Petrobras und den Baukonzern Odebrecht staunen viele nun über den JBS-Skandal. Das Unternehmen soll in den letzten Jahren rund 500 Millionen Reais an Parteien und Politiker gezahlt haben: darunter an drei Präsidenten und 167 Abgeordnete.
Im Gegenzug bekam JBS unter anderem günstige Kredite der staatlichen Förderbank BNDES und konnte so im Ausland Fleischkonzerne aufkaufen. Der Umsatz stieg binnen zehn Jahren von 4 auf 170 Milliarden Reais im Jahr - also rund 47 Milliarden Franken. (SDA)