Ich erkenne meine Stadt nicht wieder. «Sind Sie mutig oder hat Ihr Boss Sie gezwungen?», begrüsst mich Pierre (29) grinsend. Er chauffiert den Bus der Linie 34 in die Brüsseler Innenstadt – die einzige Möglichkeit, sich an diesem Montag durch die belgische Metropole zu bewegen. Nein, er habe keine Probleme, erzählt mir der junge Mann auf der Fahrt. «Ich brauche nicht überall zu halten, weil es niemanden gibt, der in die Stadt will.»
Brüssel am Tag drei der Terrorwarnstufe 4. Die Stadt steht still. Am Lycée Léopold, wo sich um die Mittagszeit sonst Schüler tummeln, herrscht Ruhe. Mark, meiner Meinung nach der beste Bäcker von Brüsseler Waffeln, hat ein handgemaltes Schild an die Rollläden seines Stands gehängt: «Fermé».
Gleich um die Ecke liegt eines der Wahrzeichen Brüssels, die Grand-Place mit ihrer einzigartigen barocken Rathausfassade. Tausende von Touristen sind hier sonst unterwegs. Heute ist der Platz wie ausgestorben. Ein gepanzertes Fahrzeug der belgischen Armee versperrt noch immer den Eingang zur Kommunalverwaltung.
«Heute kommt niemand mehr», sagt Allain, der gleich nebenan seit 15 Jahren als Ober die vorzüglichsten Muscheln der Stadt serviert. «Es tut mir leid, Monsieur, eigentlich wollten wir öffnen. Aber unsere Köche hatten zu viel Angst. Vor allem nach gestern Abend.» Da war gleich gegenüber in der Rue du Midi neben dem Rathaus die Anti-Terror-Einheit der Polizei angerückt, hatte stundenlang Häuser durchsucht. «Kommen Sie bitte wieder, wenn alles wieder normal ist», ruft mir Allain noch hinterher.
Brüssel fühlt sich noch stiller an als am vorangegangenen Wochenende. Nach den Geschäften haben nun auch die Schulen und Universitäten, Banken und öffentlichen Gebäude geschlossen. «Es ist noch nicht vorbei», sagte Belgiens Innenminister Jan Jambon am Morgen in einem Radio-Interview, nachdem es in der Nacht 19 Festnahmen und mehrere Schusswechsel gegeben hatte.
Gähnende Leere empfängt auch die Finanzminister der Währungsunion, die trotz der Terrorwarnstufe in Brüssel tagen. Wo sonst Hunderte meiner Kollegen auf jedes Wort aus berufenem Munde warten, stehen nur ein paar Kamera-Stative herum. Niemand will sich länger als nötig an solchen öffentlich einsehbaren Brennpunkten zeigen.
«Das ist doch völlig verrückt», sagt Marie, die in der Nähe des EU-Kommission-Gebäudes ein kleines Café betreibt. «Natürlich haben alle Angst, aber wollen wir uns denn von denen in die Knie zwingen lassen?» Solche Sätze werden immer lauter. «Lasst uns tun, was wir in Brüssel immer tun: Pralinen schlemmen, Bier trinken, Pommes essen und das Leben geniessen», schreibt ein gewisser Piet im Kurznachrichtendienst Twitter. Dieser hat sich für viele zum wichtigsten Nachrichtenmedium für Infos über die Lage in Brüssel entwickelt.
«Wir haben Einbussen in der Hauptstadtregion Brüssel, die schon jetzt in die Millionen gehen», sagt ein Vertreter des belgischen Einzelhandels-Verbandes. «Aber natürlich öffnet niemand sein Geschäft, wenn man ihm sagt: ‹Da kann auch gleich eine Bombe reinfliegen.›»
Zwei mutmassliche Attentäter, die man in dieser Metropole vermutet, reichten aus, um aus einer pulsierenden City eine Geisterstadt zu machen. Auch heute gilt in Brüssel noch die höchste Terrorwarnstufe.