Schüsse fallen in dem belebten Kopenhagener Viertel Nørrebro. Im 80 Kilometer von der deutschen Grenze entfernten Kolding wird einem Mann ins Bein geschossen. An einem Montagnachmittag wird ein junger Mann in einem Juweliergeschäft angeschossen. Eine Handgranate explodiert in einem Kiosk. All das ist kürzlich innerhalb von einer Woche in Dänemark passiert. Die mutmasslichen Täter: junge Schweden, manche von ihnen erst 16 Jahre alt.
Der dänische Justizminister Peter Hummelgaard (41) nannte die schwedischen Teenager «Kindersoldaten», die von dänischen Kriminellen angeheuert würden, um für sie Verbrechen zu begehen. Nach der jüngsten Gewaltwelle, die aus Schweden herüberzuschwappen scheint, verschärfte Dänemark die Kontrollen an der Grenze zum skandinavischen Nachbarland und schickte dänische Polizisten nach Schweden.
Minister warnt
In einem Interview mit dem Fernsehsender DR sagte Justizminister Hummelgaard, er verwende all seine Zeit darauf, «schwedische Zustände» in Dänemark zu verhindern. Damit spielte er auf die seit Jahrzehnten in Schweden wütende Bandengewalt an, deren Täter und Opfer zunehmend Minderjährige sind, manche von ihnen 14 Jahre und jünger.
Manne Gerell, Kriminologe an der Universität Malmö in Südschweden, erklärt, dass die schwedischen Gangs ihre Wurzeln in benachteiligten Wohngegenden mit einem hohen Anteil an Anwohnern mit Migrationshintergrund haben. «Am Anfang war es einfach Jugendkriminalität. Aber dann wurden diese Jugendlichen erwachsen, begannen strategischer vorzugehen und stärkere kriminelle Netzwerke aufzubauen», sagt Gerell der Deutschen Presse-Agentur. Im Laufe einiger Jahrzehnte habe sich daraus in Schweden ein riesiges Gewaltproblem entwickelt.
«Sie sind billig und entbehrlich»
Dass schwedische Banden auch in Dänemark tätig sind, sei nichts Neues, meint der Kriminologe. Was ihm zufolge aber neu ist, ist die Vorgehensweise. Wenn schwedische Kriminelle zuvor in Dänemark Anschläge verübten, habe es sich meist um Konflikte zwischen verfeindeten Banden gehandelt. Bei der neuen Entwicklung – schwedische Jugendliche greifen Dänen an – handle es sich um eine Art Dienstleistung, die dänische Gangster bei ihren schwedischen Kollegen kaufen würden, erklärte Gerell.
In Schweden hat sich laut Gerell ein Geschäftsmodell entwickelt, bei dem sich Kriminelle für einzelne Projekte zusammentun: «Meistens gibt es einen Projektmanager, der einen Auftrag annimmt. ‹Wir legen eine Bombe da hin› oder ‹Wir erschiessen diese Person›. Dann organisieren sie ein bis zwei Schützen. Sie organisieren jemanden, der Pistolen besorgen kann und jemanden, der die Schützen zum Tatort fährt. Und wenn sie fertig sind, existiert die Gruppe nicht mehr.» Dieses Geschäftsmodell sollen die schwedischen Gangster jetzt nach Dänemark exportiert haben.
Dass die kriminellen Teamleiter für ihre Aufgaben schwedische Teenager rekrutieren, hat einen einfachen Grund: «Sie sind billig und entbehrlich», sagt Gerell. Für die Bandenbosse hätten sie keinen Wert. Es sei ihnen egal, wenn die Jugendlichen festgenommen würden, meint der Kriminologe. Und es gebe in Schweden viele junge Menschen, die für solche Aufgaben zu haben seien. Den meisten Jugendlichen gehe es dabei entweder um Status, Geld oder um das Gefühl der Zugehörigkeit.
«Man schiesst, um zu töten»
Nach Angaben der dänischen Polizei stehen die jüngsten Anschläge in Dänemark im Zusammenhang mit einem Konflikt zwischen zwei kriminellen Banden. Warum aber benutzen die dänischen Gangster nicht einfach lokale Teenager für ihre Aufträge? Der Soziologe Aydin Soei erklärt, dass es in Dänemark einfach nicht genug sogenannte Soldaten gebe, weil die Jugendkriminalität im Land historisch niedrig sei.
Der Grund dafür seien vorbeugende Massnahmen, die man seit Anfang der Nullerjahre in benachteiligten Wohngegenden ergriffen habe: Hausaufgabenhilfe, Berufsberatung, Vereinsarbeit. «Man versucht, die jungen Menschen in gesunde Gemeinschaften zu integrieren, damit sie nicht ‹subkulturelle Anerkennung›, wie ich es nenne, in destruktiven Bandengemeinschaften suchen», sagt Soei der Deutschen Presse-Agentur.
Ausserdem gebe es in der dänischen Bandenkultur eine ungeschriebene Regel, die besage, dass man für solche harten Verbrechen keine Kinder einsetze, meint Soei. «Die Tatsache, dass dänische Banden jetzt schwedische Kinder rekrutieren, ist unter anderem ein Zeichen dafür, dass das dänische Bandenmilieu mehr verroht ist. Es ist gewaltsamer geworden und man schiesst eher, um zu töten und nicht nur, um sein Territorium zu markieren», sagt der Soziologe.
Kriminologe: Schweden hat versagt, aber Dänemark muss auch etwas tun
In Schweden habe man versagt, was die Jugendkriminalität angeht, meint der Kriminologe Gerell. «Schweden muss mehr dafür tun, um zu verhindern, dass Kinder in diese Umfelder hineingezogen werden.» Aber auch die dänischen Behörden haben Hausaufgaben, sagt Gerell: «Wie können sie beispielsweise die dänischen Kriminellen stoppen, die schwedische Kriminelle anheuern?»
Ein erster Schritt könnte die verstärkte behördliche und politische Zusammenarbeit der skandinavischen Nachbarn sein. Die Justizminister aus Dänemark und Schweden haben auf jeden Fall angekündigt, sich demnächst in Kopenhagen zu Gesprächen treffen.