Das Restaurant steht unter Wasser, doch die Kellner waten seelenruhig durch den Raum und servieren den Gästen Pizza: Alltag in einer Stadt, die mit regelmässigen Überflutungen lebt wie keine andere. Mehrmals im Jahr ist in Venedig Hochwasser.
Schuld daran sind Ebbe, Flut und der Wüstenwind Scirocco. Wenn sie zusammentreffen, quillt das Wasser am Markusplatz aus den Gullys und bahnt sich seinen Weg durch die Altstadt. Das passiert meist zwischen Oktober und Dezember – und wegen des Klimawandels immer öfter und andauernder.
Das neueste Hochwasser erreichte 156 Zentimeter, den sechsthöchsten Wert der letzten 100 Jahre und den höchsten seit 2002. Allein seit 2010 gab es vier Superfluten, bei denen das Wasser auf über 140 Zentimeter anstieg und die Stadt den Notstand ausrufen musste.
Projekt MO.S.E. soll die Wassermassen aufhalten
Schon seit Jahrzehnten arbeitet die Stadt deshalb daran, die Fluten in den Griff zu bekommen. Dabei helfen soll ein ordentlicher Hochwasserschutz. Das Projekt MO.S.E. – das modulo sperimentale elettromeccanico – soll das Wasser allerdings nicht teilen, sondern aussperren.
Die Grundidee: mobile Sperrwerke zwischen Lagune und offenem Meer. Insgesamt 78 dieser beweglichen Lagunendeiche würden an den drei Lagunenzufahrten Bocca di Lido, Bocca di Malamocco und Bocca di Chioggia unsichtbar unter Wasser liegen und einfach aufgeklappt, sobald die Flut droht. Bis zu drei Meter Hochwasser soll das System abhalten können – das vor allem im Hinblick auf den rapide ansteigenden Meeresspiegel.
2003 machte Silvio Berlusconi höchstpersönlich den ersten Spatenstich, 2013 waren laut der Firmengemeinschaft Consorzio Venezia Nuova 75 Prozent der Arbeiten fertiggestellt. Nur: Warum servieren dann fünf Jahre später Kellner die Pizza noch immer in einem Wasserbecken?
Schwarze Kassen beim Milliardenprojekt
Das Projekt MO.S.E. ist die Geschichte einer unendlichen Baustelle, von Korruption und Behördenversagen. Schon der Baubeginn war umstritten. Kritiker plädierten für eine umweltfreundlichere Massnahme. Die Befürchtung zudem: Die Schleusentechnik könnte durch Sand versagen. Die Behörden bauten trotzdem.
Dann flog 2014 ein Bestechungsskandal im Zusammenhang mit dem unter anderem aus EU-Geldern und Unesco-Förderungen finanzierten Milliardenprojekt auf. Die Staatsanwaltschaft liess in der Lagunenstadt und der umliegenden Region 35 Unternehmer und Politiker wegen mutmasslicher Korruption und Geldwäscherei festnehmen – unter ihnen auch der damalige Bürgermeister der Stadt, Giorgio Orsoni.
Bereits drei Jahre zuvor hatte die Staatsanwaltschaft von Venedig Ermittlungen zur Auftragsvergabe bei dem Projekt eingeleitet. Dabei kam eine schwarze Kasse ans Licht, die mit Bestechungsgeldern und Zahlungen aus gefälschten Rechnungen gefüllt wurde. Rund 20 Millionen sollen auf diese Weise veruntreut und beispielsweise zur Finanzierung politischer Parteien verwendet worden sein. Aufträge wurden zudem bevorzugt an regionale Unternehmen vergeben.
2021 soll das Projekt endlich fertig sein
Die Aufarbeitung des Skandals dauert noch immer an, manche Verdächtige – wie der damalige Bürgermeister – wurden freigesprochen. Zu vier Jahren Haft wurde aber Silvio Berlusconis ehemaliger Infrastruktur- und Verkehrsminister Altero Matteoli verurteilt. Im Mittelpunkt der Ermittlungen steht – wie könnte es anders sein – genau jene Firmengemeinschaft, die von den zuständigen Behörden mit der Bauausführung beauftragt wurde und die 2013 noch behauptete, der Grossteil sei bereits fertiggestellt. Zu diesem Zusammenschluss der 30 grössten Baufirmen Italiens gehört auch eine von der Familie Berlusconi betriebene Finanzholding.
Wann das Projekt MO.S.E. nun fertiggestellt wird, ist unklar. 2021 sei anvisiert, zitiert «Corriere della Sera» die zuständigen Behörden. Doch allein an der Lagunenzufahrt vom Lido Sud fehlen offenbar noch 15 von 20 Schleusentoren. Und dazu komme die notwendige Infrastruktur zur Bedienung. Die Zeitverzögerung und die gestiegenen Kosten seit Projektbeginn seien ein weiteres Problem. «Es ist nicht einfach, jemanden zu finden, der die Arbeit macht», zitiert die italienische Zeitung einen Insider.
Mit Kosten von 6,5 Milliarden Euro rechnen Experten mittlerweile. Es könnten aber auch locker mehr werden: Das Projekt ist auch mit Verwaltungs- und Wartungsproblemen verbunden, für welche die Zuständigkeiten nicht geklärt sind. Ob Venedigs Rettung darum bis in drei Jahren wirklich erfolgt ist, darf bezweifelt werden.