Situation in Syrien
Um Idlib tobt ein Abnutzungskrieg und niemanden interessierts

(Beirut) Weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit läuft im syrischen Idlib, was Experten als Abnutzungskrieg bezeichnen.
Publiziert: 30.07.2019 um 14:57 Uhr
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Seit Ende April wird Idlib, die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Nordwesten Syriens, systematisch bombardiert. Syrische Truppen und ihre russischen Verbündeten kämpfen um die letzte Bastion der Rebellen.
Foto: Anadolu Agency via Getty Images

Seit Ende April bombardieren die Truppen des syrischen Machthabers Baschar al-Assad und ihre russischen Verbündeten systematisch Kliniken, Schulen und Märkte in Idlib, um den Boden für die Rückeroberung der letzten Rebellenbastion zu bereiten.

Gezielte Angriffe auf zivile Ziele

Die Staatengemeinschaft reagiert auf die steigende Opferzahl bisher aber «mit einem Schulterzucken», wie Uno-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet kritisiert. Bachelet warf den syrischen und russischen Streitkräften am Freitag vor, ganz gezielt Spitäler, Bäckereien und Schulen anzugreifen. 

«Dies sind zivile Ziele, und angesichts der Häufigkeit und Hartnäckigkeit der Angriffe scheint es sehr unwahrscheinlich, das sie zufällig getroffen werden», sagte sie. Gezielte Angriffe auf Zivilisten seien Kriegsverbrechen, die strafrechtlich verfolgt werden müssten.

Internationale Gemeinschaft hat kein Interesse

Das Blutvergiessen in Syrien sei offenbar «nicht mehr auf dem internationalen Radar», kritisierte Bachelet. «Die Luftangriffe töten und verstümmeln jede Woche eine bedeutende Anzahl von Zivilisten, doch scheint dies nur auf ein Schulterzucken zu stossen», beklagte sie. Dabei droht eine humanitäre Katastrophe und eine neue Fluchtwelle in die Türkei, wenn Assad die Offensive ausweitet.

Idlib ist letzte Rebellenhochburg

Mehr als drei Millionen Menschen leben in Idlib und angrenzenden Gebieten unter Kontrolle der Dschihadistenallianz Hajat Tahrir al-Scham (HTS) und anderer Rebellengruppen. Ein Grossteil davon sind Flüchtlinge aus anderen Landesteilen und Kämpfer, die nach der Rückeroberung einstiger Rebellenbastionen wie Homs, Aleppo und Ost-Ghuta mit ihren Familien dorthin gebracht wurden.

Foto: Blick Grafik

Von Waffenruhe keine Spur

Eigentlich gilt für die Region seit dem vergangenen September eine Waffenruhe. Eine damals im russischen Sotschi von der Türkei und Russland ausgehandelte Vereinbarung sah zudem die Schaffung einer entmilitarisierten Zone um Idlib vor, doch wurde das Abkommen nie vollständig umgesetzt. Seit Ende April gibt es nun wieder regelmässig Luftangriffe und Gefechte in der Region.

Fast eine halle Million auf der Flucht

Die Vereinbarung von Sotschi habe den Angriff nur «vorübergehend verzögert», sagt der Syrien-Experte Nawar Oliver vom Omran Center. In der Region im Nordwesten Syriens seien «die gesamte syrische Opposition und die Familien der Kämpfer» versammelt. Es laufe ein «furchtbarer Abnutzungskrieg, in dem Zivilisten, Kliniken und andere Infrastruktur ins Visier genommen werden».

Mit den aktuellen Luftangriffen will die Regierung laut Oliver «Druck auf die Gruppen und ihre Basis in der Bevölkerung» ausüben. Bisher haben die Assad-Truppen kaum Geländegewinne gemacht, doch wurden laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte schon mehr als 740 Zivilisten getötet. Nach Uno-Angaben wurden 400'000 Menschen zur Flucht getrieben.

Türkei beliefert Rebellen mit Waffen

Die Offensive in Idlib werde durch die militärische Unterstützung der Türkei für die Rebellen behindert, sagt der Syrien-Experte Samuel Ramani. Über Beobachtungsposten, die die Türkei vergangenes Jahr in Absprache mit Russland und dem Iran zur Überwachung der Waffenruhe um Idlib eingerichtet hatte, liefere sie ihnen logistische Unterstützung, aber auch Waffen und Munition.

«Russland dringt entschiedener denn je darauf, dass ganz Syrien wieder unter die Herrschaft Assads kommt», sagt der Forscher von der englischen Universität Oxford. Moskau wolle daher, dass die Türkei ihre Militärhilfe für die Opposition in Idlib einstellt. Doch scheine es, «als ob Ankara die Rebellen mit grösserem Enthusiasmus unterstützt als seit langem», sagt Ramani.

Ankara fürchtet eine neue Fluchtwelle in die Türkei, wo bereits 3,6 Millionen Syrer leben. Die Türkei wolle «Idlib stabilisieren, damit Flüchtlinge dorthin zurückkehren können», sagt Nicolas Heras vom Center for a New American Security. Kurzfristig könne Russland mit dem türkischen Einfluss in Idlib leben, doch «Damaskus will die Türkei jetzt raus aus Syrien haben», sagt Heras. (SDA)

Krieg in Syrien: Wer kämpft gegen wen?

Seit 2011 tobt der Krieg in Syrien. Zeitweise sah es so aus, als verliere Präsident Baschar al-Assad seine Macht. Mittlerweile aber konnten Regierungsgruppen grosse Gebiete des Landes wieder einnehmen. Ein Überblick:

  • Syrische Regierung
    Assads Anhänger kontrollieren fast den gesamten westlichen Teil des Landes von Aleppo im Norden über das Zentrum um die Hauptstadt Damaskus bis zur Stadt Daraa im Süden, wo der Aufstand im Frühjahr 2011 begonnen hatte. Regierungstreue Kräfte beherrschen damit den grössten Teil der noch verbliebenen Einwohner und die wichtigsten Städte. Allerdings ist die Armee dabei auf Hilfe angewiesen.
    Das sind einerseits lokale Milizen, die oft von Kriegsherren kommandiert werden. Dazu zählen aber auch ausländische schiitische Milizen, die vom Iran unterstützt werden, wie die Hisbollah aus dem Libanon. Russlands Armee unterstützt die Regierung mit Luftangriffen.

  • Die Rebellen
    Eine ihrer letzten verbliebenen Hochburgen ist die Region um die Stadt Idlib im Nordwesten Syriens. Eine der stärksten bewaffneten Gruppen dort ist die Organisation Tahrir al-Scham (HTS), die früher zum Terrornetzwerk Al-Kaida gehörte. In dem Gebiet leben auch mehr als eine Millionen Menschen, die aus anderen Regionen vor den Assad-Truppen geflohen sind. Die humanitäre Lage ist schwierig.

  • Die Türkei
    Gemeinsam mit syrischen Rebellen beherrschen Ankaras Truppen ein Gebiet nördlich von Idlib rund um die Stadt Afrin. Die türkische Armee war hier im Frühjahr einmarschiert und hatte die Kurdenmiliz YPG vertrieben. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan droht nun mit einer neuen Offensive gegen die Kurden.

  • Die Kurden
    Sie beherrschen grosse Gebiete im Norden und Osten Syriens und haben eine Selbstverwaltung errichtet. Die Kurdenmiliz YPG führt eine Koalition an, zu der auch lokale arabische Gruppen gehören. Die so genannten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) bekämpfen nahe der Grenze zum Irak einer der letzten Bastionen des IS. Die Kurden kontrollieren auch die wichtigsten Ölvorräte des Bürgerkriegslandes.

  • Die USA
    Washington hat etwa 2000 Mann im Land, die die YPG und SDF unterstützen, unter anderem mit Ausbildung. Als Hauptziel nennen sie die Zerschlagung des IS. Die USA führen auch eine internationale Koalition an, die Luftangriffe auf die Extremisten fliegt. Trump liess die US-Truppen im Oktober 2019 abziehen und brach die Unterstützung der kurdischen Kämpfer ab.

  • Der IS
    Die Terrormiliz Islamischer Staat hat ihr früheres Herrschaftsgebiets fast vollständig verloren. Im Osten kontrolliert sie noch ein kleines Gebiet. In den Wüstenregionen Syriens und auch des Iraks sind aber noch Zellen aktiv, die Terroranschläge verüben.

Seit 2011 tobt der Krieg in Syrien. Zeitweise sah es so aus, als verliere Präsident Baschar al-Assad seine Macht. Mittlerweile aber konnten Regierungsgruppen grosse Gebiete des Landes wieder einnehmen. Ein Überblick:

  • Syrische Regierung
    Assads Anhänger kontrollieren fast den gesamten westlichen Teil des Landes von Aleppo im Norden über das Zentrum um die Hauptstadt Damaskus bis zur Stadt Daraa im Süden, wo der Aufstand im Frühjahr 2011 begonnen hatte. Regierungstreue Kräfte beherrschen damit den grössten Teil der noch verbliebenen Einwohner und die wichtigsten Städte. Allerdings ist die Armee dabei auf Hilfe angewiesen.
    Das sind einerseits lokale Milizen, die oft von Kriegsherren kommandiert werden. Dazu zählen aber auch ausländische schiitische Milizen, die vom Iran unterstützt werden, wie die Hisbollah aus dem Libanon. Russlands Armee unterstützt die Regierung mit Luftangriffen.

  • Die Rebellen
    Eine ihrer letzten verbliebenen Hochburgen ist die Region um die Stadt Idlib im Nordwesten Syriens. Eine der stärksten bewaffneten Gruppen dort ist die Organisation Tahrir al-Scham (HTS), die früher zum Terrornetzwerk Al-Kaida gehörte. In dem Gebiet leben auch mehr als eine Millionen Menschen, die aus anderen Regionen vor den Assad-Truppen geflohen sind. Die humanitäre Lage ist schwierig.

  • Die Türkei
    Gemeinsam mit syrischen Rebellen beherrschen Ankaras Truppen ein Gebiet nördlich von Idlib rund um die Stadt Afrin. Die türkische Armee war hier im Frühjahr einmarschiert und hatte die Kurdenmiliz YPG vertrieben. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan droht nun mit einer neuen Offensive gegen die Kurden.

  • Die Kurden
    Sie beherrschen grosse Gebiete im Norden und Osten Syriens und haben eine Selbstverwaltung errichtet. Die Kurdenmiliz YPG führt eine Koalition an, zu der auch lokale arabische Gruppen gehören. Die so genannten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) bekämpfen nahe der Grenze zum Irak einer der letzten Bastionen des IS. Die Kurden kontrollieren auch die wichtigsten Ölvorräte des Bürgerkriegslandes.

  • Die USA
    Washington hat etwa 2000 Mann im Land, die die YPG und SDF unterstützen, unter anderem mit Ausbildung. Als Hauptziel nennen sie die Zerschlagung des IS. Die USA führen auch eine internationale Koalition an, die Luftangriffe auf die Extremisten fliegt. Trump liess die US-Truppen im Oktober 2019 abziehen und brach die Unterstützung der kurdischen Kämpfer ab.

  • Der IS
    Die Terrormiliz Islamischer Staat hat ihr früheres Herrschaftsgebiets fast vollständig verloren. Im Osten kontrolliert sie noch ein kleines Gebiet. In den Wüstenregionen Syriens und auch des Iraks sind aber noch Zellen aktiv, die Terroranschläge verüben.
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