Blick konnte sich am Montag über Skype exklusiv mit Mykhailo Podolyak (50) unterhalten, einem der wichtigsten Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (44). Podolyak ist seit dem Kriegsausbruch ein gefragter Mann, trotzdem nahm er sich Zeit für ein halbstündiges Gespräch. Er gibt sich optimistisch, dass die Ukraine den Krieg gewinnen wird – auch wenn sich das Land derzeit mit den russischen Scheinreferenden und möglichen weiteren Annexionen konfrontiert sieht.
Blick: Wie reagiert die Ukraine auf die Scheinreferenden in den von Russland besetzten Gebieten?
Mykhailo Podolyak: Diese Referenden sind ganz klar illegal. Es handelt sich dabei um eine Propaganda-Aktion der Russen. In unseren Augen ist das nichts anderes als Massengewalt gegen eine Vielzahl von Menschen, die sich noch in besetzten Gebieten aufhalten.
Wird die Ukraine die militärische Gegenoffensive beschleunigen?
Unsere Gegenoffensive ist voll im Gang. Sie hängt nicht von politischen oder propagandistischen Entscheiden der Russen ab. Sie beruht auf der Taktik und den Strategien, die vom ukrainischen Generalstab entwickelt wurden. Und sie ist eine Frage der Anzahl Waffen, die unsere Streitkräfte von Partnerländern erhalten.
Welche Strafen werden gegen Ukrainerinnen und Ukrainer verhängt, die an den Scheinreferenden teilgenommen haben?
Es gibt Menschen mit ukrainischer Staatsbürgerschaft, die aktiv mitgeholfen haben, diese Scheinreferenden zu organisieren. Wir haben Listen mit Namen von Personen, die in irgendeiner Weise beteiligt gewesen sind. Wir sprechen von Hunderten Kollaborateuren. Sie werden wegen Hochverrats strafrechtlich verfolgt werden. Ihnen drohen Gefängnisstrafen von mindestens fünf Jahren.
Was ist mit denjenigen, die zur Stimmabgabe gezwungen worden sind?
Sie werden nicht bestraft.
Mykhailo Podolyak (50) war in den 1990er-Jahren als Journalist für verschiedene oppositionelle Redaktionen tätig. Seit April 2020 arbeitet er für das Präsidialamt der Ukraine und ist heute einer der wichtigsten Berater von Präsident Wolodimir Selenski (44). Er vertrat die Ukraine unter anderem bei den Verhandlungen mit Russland nach Kriegsbeginn im Februar dieses Jahres.
Mykhailo Podolyak (50) war in den 1990er-Jahren als Journalist für verschiedene oppositionelle Redaktionen tätig. Seit April 2020 arbeitet er für das Präsidialamt der Ukraine und ist heute einer der wichtigsten Berater von Präsident Wolodimir Selenski (44). Er vertrat die Ukraine unter anderem bei den Verhandlungen mit Russland nach Kriegsbeginn im Februar dieses Jahres.
Sprechen wir über die Mobilisierung in den besetzten Gebieten: Wird es so weit kommen, dass Ukrainer dort gezwungen werden, gegen ihre Landsleute zu kämpfen?
Die Russen werden auf jeden Fall versuchen, Ukrainer aus den besetzten Gebieten in den Krieg zu schicken. Bereits heute gibt es viele Berichte über Krimtataren (einheimische Bevölkerung der Krim; Anm. d. Red,), die aktiv einberufen und an die Frontlinie geschickt werden. Das ist die russische Taktik: die Zerstörung der ukrainischen Bevölkerung.
Wie reagiert die Ukraine auf die Mobilmachung der Russen? Welche Reserven kann sie aufbringen?
Wir haben bereits eine wirksame Armee, die gut aufgestellt ist und über erfahrene Streitkräfte verfügt. 700’000 Mann, die heute in der Reserve sind oder bereits an der Front kämpfen. Damit können wir uns verteidigen und auch mit Gegenoffensiven kontern. Kommt hinzu: Es gibt vermehrt auch Ausbildungszentren, die von unseren westlichen Partnern eingerichtet worden sind. Wir haben heute viel mehr Nato-Waffen.
Russland auf der anderen Seite mobilisiert im Rekordtempo.
Genau. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es sich dabei um eine Zwangsmobilisierung handelt. Die Russen ziehen alle Personen ein – auch solche, die kaum ausgebildet sind und überhaupt keine Kriegserfahrung haben. Sie werden eingesetzt, um Verluste wettzumachen. Diese Soldaten werden mit grösster Wahrscheinlichkeit getötet werden, weil sie unvorbereitet und bereits vor dem Kampf demoralisiert sind.
Wir sehen bereits, dass die russische Mobilisierung zu einer Massenflucht führt. Wie bereitet sich die Ukraine darauf vor?
Die Russen begreifen jetzt endlich, dass Krieg nicht bedeutet, einfach zu Hause auf der Couch zu sitzen – sondern dass sie dafür einen hohen Preis bezahlen müssen. Wir raten darum all jenen Russen, die nicht auf ukrainischem Territorium kämpfen wollen, sich zu ergeben.
Was haben die Gefangenen dann für Möglichkeiten?
Sie können sich gemäss den Genfer Konventionen weigern, an Russland ausgeliefert zu werden. Deshalb geben wir ihnen die Möglichkeit, sich zu ergeben und zu warten, bis der politische Transformationsprozess in Russland beginnt. Bis all die repressiven Strafen abgeschafft werden und die Menschen zu ihren Familien zurückkehren können.
Welche Gefühle löst es bei Ihnen aus, wenn Sie sehen, wie europäische Politiker – etwa der Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis (61) – dem russischen Aussenminister Sergej Lawrow noch immer die Hand schütteln?
Es zeigt öffentlich, dass sie nicht verstehen, was der Krieg Russlands gegen die Ukraine bewirkt und warum er für die Welt sehr gefährlich ist.
Inwiefern?
Russland ist wirtschaftlich extrem erfolglos, technologisch rückständig und finanziell wird das Land untergehen. Die Russen proklamieren Expansionismus, also die Inbesitznahme von Gebieten anderer Länder. Wer das mittel- und langfristig unterstützt, schadet seinem eigenen Ruf.
Wie überzeugen Sie Europa davon, dass die Unterstützung der Ukraine wichtiger ist als ein kalter Winter und hohe Stromrechnungen?
Das russische Monopol auf die Energieversorgung in Europa ist bloss eine weitere Frontlinie im Krieg. Die Rechnung ist einfach: Verliert die Ukraine, wird der Energiekrieg Russlands gegen Europa weitergehen. Gewinnt die Ukraine, wird Russland mit der Umgestaltung seines internen politischen Systems beginnen, was den Druck Russlands auf die Preisgestaltung im Energiesektor erheblich verringern wird. Wer von einem monopolistischen Energielieferanten abhängig ist, der nicht demokratisch, sondern autoritär ist, wird immer von dessen Launen abhängig sein.
Wie schätzen Sie das Risiko eines nuklearen Angriffs auf die Ukraine ein?
Die Ukraine besitzt keine Atomwaffen. Sie kann also nicht entsprechend auf die Drohung von Wladimir Putin (69) reagieren.
Trotzdem: Bereitet sich die Ukraine auf diesen Fall vor?
Unser Land und seine Bevölkerung bereiten sich natürlich auf diesen Fall vor. Aber wohin genau sollen wir im Fall eines russischen Atomschlags gegen die Ukraine die Menschen evakuieren? Darum ist der Einsatz von Atomwaffen eine Frage der globalen Sicherheit – hier geht es nicht mehr nur um die Ukraine. Nun sind die Staaten, die über Atomwaffen verfügen, in der Pflicht. Sie müssen Russland klarmachen, dass der Einsatz von Atomwaffen äusserst katastrophale Folgen haben wird.