Mehr als einen Monat nach Kriegsbeginn hat der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) in einem Interview mit russischen Journalisten Kremlchef Wladimir Putin (69) eine Verzögerung der Friedensverhandlungen vorgeworfen. In dem rund anderthalbstündigen Video-Gespräch, das etwa das kritische Portal Meduza am Sonntagabend veröffentlichte, forderte Selenski einmal mehr einen Abzug russischer Truppen von ukrainischem Territorium.
Erst dann könne es Sicherheitsgarantien für die Ukraine geben, die wiederum Grundlage für den von Moskau geforderten Nato-Verzicht der Ukraine seien, sagte der ukrainische Staatschef. Selenski erneuerte ausserdem seine Ankündigung, dass über einen möglichen neutralen Status der Ukraine letztendlich nur die ukrainischen Bürger per Referendum entscheiden könnten. «Dieser Punkt der Verhandlungen ist für mich verständlich und er wird diskutiert, er wird gründlich geprüft».
Selenski nicht zufrieden mit Verhandlungen
Selenski zeigte sich generell nicht zufrieden mit den Friedensverhandlungen mit Aggressor Russland: «In Minsk haben sie den Prozess unnötig in die Länge gezogen. Wahrscheinlich, weil sie uns in dieser Zeit besetzen wollten.» Zudem werde während dieser Verhandlungen, welche am Montag in der Türkei wieder aufgenommen werden sollen, nicht ernsthaft verhandelt. «Wir diskutieren überhaupt nicht».
«Ich bin nicht gegen diese Gespräche, solange es ein Ergebnis gibt. Können Sie sich vorstellen, wie lange das alles dauern könnte?», sagt Selenski im Interview. Ukraines Staatspräsident vermutet, dass ein mögliches Referendum zur Neutralität der Ukraine zwar nur wenige Monate brauchen würde, Änderungen im Gesetz würden allerdings mindestens ein Jahr beanspruchen. Das sei zu lang, so der ukrainische Präsident. Ausserdem sei ein «richtiges» Referendum gar nicht möglich, solange sich noch feindliche Truppen im Land befinden würden.
Auf die Frage, wie seine Beziehung zu Russland zurzeit sei, sagte er: «Trotz der Tatsache, dass ich der Präsident bin und ein ziemlich pragmatischer Mensch sein sollte, hat sich die Haltung nach dem 24. Februar sehr verschlechtert. Die emotionale Komponente zur Russischen Föderation, zu den Menschen, ist verloren gegangen. Sogar zu den Menschen». Dieses Gefühl könne nicht mehr rückgängig gemacht werden, so Selenski.
Er kritisiert auch den russischen Umgang mit den eigenen gefallenen Soldaten stark. Der ukrainische Präsident erklärt, man teile alle Listen über Todesopfer mit der russischen Armee. Viele der getöteten Soldaten seien «Kinder» – gerade erst 18 oder 19 Jahre alt – und die russische Seite weigere sich teilweise, die Todesfälle anzuerkennen und die sterblichen Überreste zurück zu den Familien zu transportieren.
«Wir wollen sie zurückgeben, wir wollen keine Leichen behalten», so Selenski. Zuerst habe sich Russland geweigert, «dann haben sie uns ein paar Säcke angeboten». Sie seien wie «Müllsäcke» gewesen, sagte der ukrainische Präsident, «so behandelt man nicht einmal einen Hund oder eine Katze, wenn sie stirbt».
Meduza veröffentlicht Interview trotz Warnung
Zu den russischen Journalisten, die das Interview führten, gehörte auch ein Reporter der bekannten Moskauer Tageszeitung «Kommersant». Zudem wurde eine Frage im Namen des Chefredakteurs der oppositionellen «Nowaja Gaseta», Dmitri Muratow, gestellt. Beide Blätter veröffentlichten Selenskis Äusserungen nach Drohungen der russischen Medienaufsicht zunächst nicht.
Die Behörde Roskomnadsor hatte russische Medien ohne Angabe von Gründen vor einer Veröffentlichung gewarnt. In Russland darf etwa der Einmarsch der russischen Truppen in der Ukraine offiziell nur als «militärische Spezial-Operation» bezeichnet werden. Zudem sieht ein neues Mediengesetz bis zu 15 Jahre Haft für angebliche Falschnachrichten über Russlands Streitkräfte vor.
Das Portal Meduza, das aus dem Exil betrieben wird und in Russland blockiert ist, veröffentlichte das Interview dennoch (hier der Link zum kompletten Interview in russischer Sprache). Selenski sagte darin auch: «Heute, in diesem Monat, hat es eine globale, historische, kulturelle Spaltung gegeben. Das ist nicht nur ein Krieg. Ich denke, es ist viel schlimmer.» (SDA/chs)