Der letzte Dienstag begann für Papst Franziskus (78) wie Hunderte Tage davor. Zur Morgenmesse predigt er in der Kapelle des vatikanischen Gästehauses «Domus Sanctae Marthae», wo er auch wohnt.
Es ist eine typische Franziskus-Predigt. Er spricht vom «Schmutz des Herzens» und davon, wie grossherzig Gott vergibt: «Der Herr vergibt immer alles! Alles! Wenn du aber willst, dass dir vergeben wird, dann musst du den Weg des Tuns des Guten einschlagen. Das ist das Geschenk!»
Franziskus, wie er leibt und lebt. Klar: Jeder versteht solche Worte. Der Papst predigt Barmherzigkeit – und einen grosszügigen Umgang mit reuigen Sündern.
Wie kleinlich und engherzig erscheint dagegen der Rausschmiss des Pfarrers von Bürglen UR, Wendelin Bucheli (61) – nur, weil der ein lesbisches Paar gesegnet hat!
Im Proteststurm gegen Buchelis Chefs, die Bischöfe Vitus Huonder (72) und Charles Morerod (53), berufen sich progressive Kirchenleute immer wieder auf Franziskus. Die Segnung von homosexuellen Paaren entspreche «dem Wunsch des jetzigen Papstes nach mehr Barmherzigkeit im Umgang mit den Menschen», meinte etwa
Monika Schmid, Gemeindeleiterin der Pfarrei Illnau-Effretikon ZH im «Landboten». Das sei «Kidnapping des Papstes», entgegnet der Churer Generalvikar Martin Grichting (47). Denn auch die Gegenseite sieht den Pontifex auf ihrer Seite. Es könne ja nicht sein, dass sich die Bischöfe anmassten, Lehre und Disziplin der Kirche zu ändern, liess die Bischofskonferenz letzten Donnerstag in Sachen Bucheli verlauten. Und hat Franziskus nicht mehrfach deutlich gemacht, dass er ohne Wenn und Aber hinter der Lehre der Kirche steht?
Der Fall Bürglen zeigt exemplarisch, wie Aussagen des Papstes nicht selten als Beleg für diametral entgegengesetzte Standpunkte herhalten müssen. Mal gilt Franziskus als progressiver Reformer, mal als Hüter der Tradition.
Wo steht dieser Papst wirklich? Der Argentinier macht es nicht leicht, diese Frage zu beantworten.
Jorge Mario Bergoglio, der 266. Bischof von Rom und erster Südamerikaner auf dem Stuhl Petri, hat seit seiner Wahl am 13. März 2013 zwar sehr viel und sehr oft zu den Menschen gesprochen – er ist aber bis heute seltsam vage und widersprüchlich geblieben.
Auf den Philippinen liess er etwa den herben Satz fallen, dass sich gute Katholiken «nicht wie Karnickel vermehren» sollten – um dann nachzuschieben, dass die Lehre Kondome und Pille nicht gestatte.
Oder das viel umjubelte Schwulen-Zitat: «Wenn eine Person homosexuell ist und Gott sucht und guten Willens ist, wer bin ich, über ihn zu richten?» Diesen Satz, gesagt auf dem Rückflug vom Weltjugendtag in Rio de Janeiro, deuteten Beobachter schon als Ansage für einen radikalen Kurswechsel. Doch schnell dämpfte der Papst übertriebene Erwartungen: Punkto Abtreibung, Homo-Ehen und Verhütung kenne man ja die Ansichten der Kirche – «und ich bin ein Sohn der Kirche».
Franziskus passe eben nicht «in das übliche Schwarz-Weiss-Schema», sagt der Schweizer Kurienkardinal Kurt Koch (64) zu SonntagsBlick. «Er ist weder liberal noch traditionalistisch.» Wohl aber sei er «radikal» im besten Sinn des Wortes: nämlich dort, wo es an die Wurzel gehe – ans Evangelium.
Franziskus wolle eine Kirche, «die sich nicht um sich selbst dreht, sondern hinausgeht an die Peripherien des menschlichen Lebens». In dieser missionarischen Dynamik, die Franziskus wie ein Wirbelwind entfaltet, sehen alle möglichen Strömungen ihre Ideen bestätigt. Der Papst diene als «Projektionsfläche», sagt Kardinal Koch – besser wäre es, «genau hinzuhören, was er sagt – und sich dabei auch etwas irritieren zu lassen».
Was er sagt, lässt sich etwa im Apostolischen Schreiben «Evangelii Gaudium» nachlesen – es ist das einzige grundlegende Dokument, das er bisher publiziert hat. Liberale Kreise lesen darin gerne, was sie lesen wollen: Dass es dem Pontifex in erster Linie um Reformen gehe. Das aber ist ein fundamentaler Irrtum. Was Franziskus viel wichtiger ist: die Kirche missionarischer zu machen. Dem haben die Reformen zu folgen. Er sieht sich als Hirte der Welt, dessen Voranschreiten die Herde elektrisieren soll – und nicht als Reformer, der die Kirche einer zeitgeistigen Mainstream-Moral angleicht, wie viele das von ihm erwarten.
Für den Papst sei die wichtigste Reform die spirituelle Erneuerung, sagt Kardinal Koch – alles andere gehe erst aus dieser hervor.
Spirituelle Erneuerung heisst auch: Der beleibte Argentinier ist kein Mann für «Katholizismus light». Wer nur noch vage an Gott glaubt, die Kirche nur noch zur weihnächtlichen Mitternachtsmesse von innen sieht, Tischgebete nur noch vom Hörensagen kennt und gleichzeitig lautstark die Segnung von Homo-Ehen fordert, der ist in den Augen des Papstes ein Heuchler. Und mit Heuchlern hat er es bekanntlich gar nicht. Wer vom Papst erwartet, dass er endlich liefert, muss sich die Frage gefallen lassen, was er selber liefert.
Das anstehende dritte Amtsjahr wird wohl zum wichtigsten im Pontifikat Franziskus. Schafft er die nachhaltige Neuordnung der vatikanischen Finanzen? Beschliesst die Bischofssynode im Herbst Neuerungen, die viele für überfällig halten – etwa, dass gescheiterte katholische Ehen leichter aufgelöst werden können?
Wenn Franziskus nicht als Übergangspapst in die Geschichte eingehen will, wird er bald ein paar realpolitische Pflöcke einschlagen wollen. Dass seinen vielen Worten und Gesten bald Taten folgen, sei «gewiss», glaubt Kardinal Koch – wenn der Papst sie für reif halte.