So erlebte London den letzten Tag vor dem Brexit
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Video-Reportage:So erlebte London den letzten Tag vor dem Brexit

Seit Mitternacht gehört Grossbritannien nicht mehr zur EU – zwei Meinungen zum historischen Moment
«O schöne neue Welt» – oder doch «Lehrstunde für die EU»?

Grossbritannien ist draussen. Das ist gut für die Briten, meint Rockmusiker und London-Fan Chris von Rohr. Anglistik-Professorin Ina Habermann wiederum schreibt: Die Partylaune wird dem Land schnell vergehen.
Publiziert: 31.01.2020 um 23:11 Uhr
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Aktualisiert: 04.02.2020 um 10:13 Uhr
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Er ist der Urheber des Brexit: Premierminister David Cameron versuchte 2015 in Brüssel EU-Reformen durchzubringen. Im Jahr drauf liess er die Briten über den Ausstieg abstimmen.
Foto: Getty Images
Chris von Rohr und Ina Habermann
O schöne neue Welt

Premierminister Boris Johnson (55) hatte es sich schön vorgestellt: Zum Austritt aus der EU sollten Big Bens Glocken läuten, um den Sieg der Tories und die neue Unabhängigkeit zu verkünden. Doch leider wird Big Ben gerade renoviert, und die halbe Million Pfund, die das Läuten gekostet hätte, wollte man dann doch nicht aufbringen. Und so ist auch das Schweigen Big Bens hoch symbolisch, verweist es doch auf die Spannung zwischen dem konservativen britischen Selbstverständnis und der Realität.

Der Austrittsparty werden zähe Verhandlungen mit der EU folgen, bei denen die Briten nicht auf Augenhöhe sein werden. Und die Bevölkerung wird merken, dass der Austritt kein einziges der hausgemachten Probleme löst: wachsende Ungleichheit, niedrige Löhne, prekäre Altersversorgung, überschiessende Mieten und Hauspreise, Obdachlosigkeit, Drogensucht, Gewalt und Rassismus, schlechter Zugang zu Bildung in einem elitären System, ein Gesundheitssystem vor dem Kollaps und Chaos bei zentralen Infrastrukturprojekten wie dem Ausbau der Hochgeschwindigkeitstrassen.

Schon jetzt zeichnen sich die Konturen der schönen neuen Tory-Welt ab: Kein Interesse an Qualitätskontrollen für die Einfuhr von Nahrungsmitteln, an Hilfen für strukturschwache Regionen oder der Etablierung von Sicherheitsstandards – man denke nur an das verheerende Feuer im Londoner Grenfell Tower im Juni 2017.

Stattdessen neoliberale «Deals» mit Partnern wie US-Präsident Donald Trump (73), der offen Druck auf London ausübt, sich seiner Iran-Politik anzuschliessen. Andernfalls sei das geplante Freihandelsabkommen gefährdet. Bereits hört man Johnson im Unterhaus in vorauseilendem Gehorsam Trumps kontroversen Nahostplan für eine Zwei-Staaten-Lösung loben – mehr als ironisch bei einem Politiker, der so sehr darauf bestanden hatte, sich nicht mehr «von Angela Merkel herumkommandieren» lassen zu wollen.

Tatsächlich wird man sich in Post-Brexit-Britain darauf einstellen müssen, künftig von Chinesen herumkommandiert zu werden. Die Übernahme von British Steel durch die Firma Jingye steht kurz bevor, Huawei soll das 5G-Netz ausbauen, und der Ausverkauf von Schlüsselindustrien, Infrastruktur und Know-how nimmt weiter Fahrt auf.

Sicherheitsbedenken werden beiseite geschoben von einer Administration unter Leitung des rechten Hardliners Dominic Cummings (48), der den hergebrachten politischen Verwaltungsstrukturen ebenso den Kampf angesagt hat wie der traditionsreichen BBC, deren öffentliche Finanzierung und Verpflichtung zur Unabhängigkeit ihm ein Dorn im Auge ist.

Zufrieden ist er dagegen mit der mächtigen und rechtslastigen Boulevardpresse, die den Brexit mit herbeigeführt und kürzlich Prinz Harry und seine Frau Meghan, die einen afroamerikanischen Hintergrund hat, praktisch aus dem Land gemobbt hat. Viele Briten werden sich noch fragen, wie sie die Geister loswerden, die sie riefen.

Schliesslich ist zu betonen, dass es vor allem der englische Nationalismus ist, der sich hier Bahn bricht und die gesellschaftliche Spaltung vorantreibt. Die nordirischen Unionisten fühlen sich verraten. Seit der Unterhauswahl 2019 gibt es in Nordirland eine nationalistische Mehrheit, und die in Schottland siegreiche Scottish National Party arbeitet bereits an einem neuen Unabhängigkeitsreferendum. Auch der aussichtsreichste Kandidat für die künftige Führung der Labour Party, Keir Starmer (57), fordert schon ein föderalistisches System.

Heute feiern im konservativen Grossbritannien die, denen morgen die Stunde schlägt.

Ina Habermann ist Professorin für englische Literatur und Kultur an der Universität Basel. Sie befasst sich wissenschaftlich unter anderem mit den Europa-Diskussionen in Grossbritannien und dem britischen Selbstverständnis.

Premierminister Boris Johnson (55) hatte es sich schön vorgestellt: Zum Austritt aus der EU sollten Big Bens Glocken läuten, um den Sieg der Tories und die neue Unabhängigkeit zu verkünden. Doch leider wird Big Ben gerade renoviert, und die halbe Million Pfund, die das Läuten gekostet hätte, wollte man dann doch nicht aufbringen. Und so ist auch das Schweigen Big Bens hoch symbolisch, verweist es doch auf die Spannung zwischen dem konservativen britischen Selbstverständnis und der Realität.

Der Austrittsparty werden zähe Verhandlungen mit der EU folgen, bei denen die Briten nicht auf Augenhöhe sein werden. Und die Bevölkerung wird merken, dass der Austritt kein einziges der hausgemachten Probleme löst: wachsende Ungleichheit, niedrige Löhne, prekäre Altersversorgung, überschiessende Mieten und Hauspreise, Obdachlosigkeit, Drogensucht, Gewalt und Rassismus, schlechter Zugang zu Bildung in einem elitären System, ein Gesundheitssystem vor dem Kollaps und Chaos bei zentralen Infrastrukturprojekten wie dem Ausbau der Hochgeschwindigkeitstrassen.

Schon jetzt zeichnen sich die Konturen der schönen neuen Tory-Welt ab: Kein Interesse an Qualitätskontrollen für die Einfuhr von Nahrungsmitteln, an Hilfen für strukturschwache Regionen oder der Etablierung von Sicherheitsstandards – man denke nur an das verheerende Feuer im Londoner Grenfell Tower im Juni 2017.

Stattdessen neoliberale «Deals» mit Partnern wie US-Präsident Donald Trump (73), der offen Druck auf London ausübt, sich seiner Iran-Politik anzuschliessen. Andernfalls sei das geplante Freihandelsabkommen gefährdet. Bereits hört man Johnson im Unterhaus in vorauseilendem Gehorsam Trumps kontroversen Nahostplan für eine Zwei-Staaten-Lösung loben – mehr als ironisch bei einem Politiker, der so sehr darauf bestanden hatte, sich nicht mehr «von Angela Merkel herumkommandieren» lassen zu wollen.

Tatsächlich wird man sich in Post-Brexit-Britain darauf einstellen müssen, künftig von Chinesen herumkommandiert zu werden. Die Übernahme von British Steel durch die Firma Jingye steht kurz bevor, Huawei soll das 5G-Netz ausbauen, und der Ausverkauf von Schlüsselindustrien, Infrastruktur und Know-how nimmt weiter Fahrt auf.

Sicherheitsbedenken werden beiseite geschoben von einer Administration unter Leitung des rechten Hardliners Dominic Cummings (48), der den hergebrachten politischen Verwaltungsstrukturen ebenso den Kampf angesagt hat wie der traditionsreichen BBC, deren öffentliche Finanzierung und Verpflichtung zur Unabhängigkeit ihm ein Dorn im Auge ist.

Zufrieden ist er dagegen mit der mächtigen und rechtslastigen Boulevardpresse, die den Brexit mit herbeigeführt und kürzlich Prinz Harry und seine Frau Meghan, die einen afroamerikanischen Hintergrund hat, praktisch aus dem Land gemobbt hat. Viele Briten werden sich noch fragen, wie sie die Geister loswerden, die sie riefen.

Schliesslich ist zu betonen, dass es vor allem der englische Nationalismus ist, der sich hier Bahn bricht und die gesellschaftliche Spaltung vorantreibt. Die nordirischen Unionisten fühlen sich verraten. Seit der Unterhauswahl 2019 gibt es in Nordirland eine nationalistische Mehrheit, und die in Schottland siegreiche Scottish National Party arbeitet bereits an einem neuen Unabhängigkeitsreferendum. Auch der aussichtsreichste Kandidat für die künftige Führung der Labour Party, Keir Starmer (57), fordert schon ein föderalistisches System.

Heute feiern im konservativen Grossbritannien die, denen morgen die Stunde schlägt.

Ina Habermann ist Professorin für englische Literatur und Kultur an der Universität Basel. Sie befasst sich wissenschaftlich unter anderem mit den Europa-Diskussionen in Grossbritannien und dem britischen Selbstverständnis.

Lehrstunde für die EU

Meine Mutter hatte englisches Blut. Als Jugendlicher verbrachte ich jedes Jahr mehrere Wochen in London, Südengland und Schottland. So lernte ich die Briten kennen und bewundere seit diesen frühen Jahren ihre Art, vieles andersherum zu machen. Ich mag dieses Land, seine Menschen, ihren Humor, ihr Erfindertum, ihre Musikalität, ihren Fussball, ihren Teetick, Shakespeare, Beatles, Stones, James Bond, das Dandytum, ihr Bier und ihre Zähheit. Frauen laufen da sogar im Januar ohne Strümpfe herum, als stünde gerade der Frühling vor der Tür.

Die Engländer und ihr Verständnis von liberty sind uns vom Wesen her sehr ähnlich. Nirgendwo werden die politische Freiheit und das Individuum in Europa so hochgehalten wie bei uns. Totalitarismus, Extremismus, zentralistisches Staatsdenken und Faschismus hatten in beiden Ländern keine Chance.

Unser Land gilt als angelsächsischster Staat Kontinentaleuropas, und Churchill sprach sich im Zweiten Weltkrieg sogar mehrfach für die Schweiz aus und lockerte Seeblockaden für Schiffe, die für unser Land bestimmt waren. Es gab Austausch und jede Menge Inspiration für beide Seiten. So lösten die Engländer im 19. Jahrhundert einen einzigartigen Tourismusboom hierzulande aus, und Queen Victoria war herzlich willkommen.

Etwas anders erging es dem neuen Premierminister Boris Johnson (55). Was musste der Mann an Prügel einstecken! Er wurde als irrer Trottel, Clown und Hofnarr dargestellt, ja sogar als Trumpkopie. Bei allen seinen Fehlern (wer macht schon keine) ahnte ich immer: Dieser Mann wird am Schluss gewinnen. Nicht nur weil er einen guten Job als Londoner Bürgermeister machte, sondern weil er schlau, menschennah und absolut ungewöhnlich ist.

Boris mag einem passen oder nicht. Seine geniale Zerzaustheit, sein Humor und die schon fast parodiemässige Redekunst fesseln durch alle Klassen. Warum? Weil man spürt, dass hier einer steht, der nicht immer perfekt und korrekt ist, der aber anpackt und dieses Land aus der elenden, scheinbar nie endenden Brexit-Schockstarre führen wird. Sein grosses Forte: Er erheitert Menschen anstatt sie zu deprimieren.

Von den staatsnahen Medien getragen und von Brüssel gepeinigt, unterschätzte seine Vorgängerin zu lange die Befindlichkeit, den Verdruss und Stolz ihrer Landesgenossen. Die hatten irgendwann einfach genug von all den Drohungen und Inseluntergangs-Szenarien und dem ganzen Thema. Schliesslich hat das Land noch einige andere Probleme dringend zu lösen.

Was dieser Split für die EU bedeutet, wurde sehr lange bewusst totgeschwiegen oder schöngeredet. Erst letzten Monat las ich plötzlich vom renommierten, unverdächtigen Historiker Timothy Garton Ash (64), aber auch anderen, dass es die EU weitaus härter treffen wird als Grossbritannien. England sei nach wie vor ein mittelgrosses, reiches und erfinderisches Land, sagt Garton Ash. Verheerend hingegen seien die Langzeitfolgen für das uneinige Kunstgebilde EU, das unter seinen Ländern zerstritten und sowieso nicht im besten Zustand ist.

Jetzt im Erfolg muss aber auch Boris aufpassen und liefern. Einfach wird das nicht, aber die jahrelang nur verwaltenden, Angst und Schrecken säenden alten Politiker werden durch frisches Blut ersetzt. Gut so! Mit grosser Spannung dürfen wir den Verhandlungen entgegensehen, und unsere oft so schwach und bittstellerartig auftretenden Politiker in Bern sollten genau hinschauen.

Meine Prognose: Es wird ein zäher Kampf, aber die Britten werden in zehn Jahren besser dastehen als vorher. Und die EU (nicht zu verwechseln mit Europa) wird durch diesen unnötigen Aderlass lernen, künftig vorsichtiger mit rebellierenden Mitgliedländern umzugehen. Mit England verliert sie ihren zweitgrössten Nettozahler und hellsten liberalen Stern.

Chris von Rohr (68) ist Bestseller-Autor und Rockmusiker. Mindestens zweimal jährlich besucht er London.

Meine Mutter hatte englisches Blut. Als Jugendlicher verbrachte ich jedes Jahr mehrere Wochen in London, Südengland und Schottland. So lernte ich die Briten kennen und bewundere seit diesen frühen Jahren ihre Art, vieles andersherum zu machen. Ich mag dieses Land, seine Menschen, ihren Humor, ihr Erfindertum, ihre Musikalität, ihren Fussball, ihren Teetick, Shakespeare, Beatles, Stones, James Bond, das Dandytum, ihr Bier und ihre Zähheit. Frauen laufen da sogar im Januar ohne Strümpfe herum, als stünde gerade der Frühling vor der Tür.

Die Engländer und ihr Verständnis von liberty sind uns vom Wesen her sehr ähnlich. Nirgendwo werden die politische Freiheit und das Individuum in Europa so hochgehalten wie bei uns. Totalitarismus, Extremismus, zentralistisches Staatsdenken und Faschismus hatten in beiden Ländern keine Chance.

Unser Land gilt als angelsächsischster Staat Kontinentaleuropas, und Churchill sprach sich im Zweiten Weltkrieg sogar mehrfach für die Schweiz aus und lockerte Seeblockaden für Schiffe, die für unser Land bestimmt waren. Es gab Austausch und jede Menge Inspiration für beide Seiten. So lösten die Engländer im 19. Jahrhundert einen einzigartigen Tourismusboom hierzulande aus, und Queen Victoria war herzlich willkommen.

Etwas anders erging es dem neuen Premierminister Boris Johnson (55). Was musste der Mann an Prügel einstecken! Er wurde als irrer Trottel, Clown und Hofnarr dargestellt, ja sogar als Trumpkopie. Bei allen seinen Fehlern (wer macht schon keine) ahnte ich immer: Dieser Mann wird am Schluss gewinnen. Nicht nur weil er einen guten Job als Londoner Bürgermeister machte, sondern weil er schlau, menschennah und absolut ungewöhnlich ist.

Boris mag einem passen oder nicht. Seine geniale Zerzaustheit, sein Humor und die schon fast parodiemässige Redekunst fesseln durch alle Klassen. Warum? Weil man spürt, dass hier einer steht, der nicht immer perfekt und korrekt ist, der aber anpackt und dieses Land aus der elenden, scheinbar nie endenden Brexit-Schockstarre führen wird. Sein grosses Forte: Er erheitert Menschen anstatt sie zu deprimieren.

Von den staatsnahen Medien getragen und von Brüssel gepeinigt, unterschätzte seine Vorgängerin zu lange die Befindlichkeit, den Verdruss und Stolz ihrer Landesgenossen. Die hatten irgendwann einfach genug von all den Drohungen und Inseluntergangs-Szenarien und dem ganzen Thema. Schliesslich hat das Land noch einige andere Probleme dringend zu lösen.

Was dieser Split für die EU bedeutet, wurde sehr lange bewusst totgeschwiegen oder schöngeredet. Erst letzten Monat las ich plötzlich vom renommierten, unverdächtigen Historiker Timothy Garton Ash (64), aber auch anderen, dass es die EU weitaus härter treffen wird als Grossbritannien. England sei nach wie vor ein mittelgrosses, reiches und erfinderisches Land, sagt Garton Ash. Verheerend hingegen seien die Langzeitfolgen für das uneinige Kunstgebilde EU, das unter seinen Ländern zerstritten und sowieso nicht im besten Zustand ist.

Jetzt im Erfolg muss aber auch Boris aufpassen und liefern. Einfach wird das nicht, aber die jahrelang nur verwaltenden, Angst und Schrecken säenden alten Politiker werden durch frisches Blut ersetzt. Gut so! Mit grosser Spannung dürfen wir den Verhandlungen entgegensehen, und unsere oft so schwach und bittstellerartig auftretenden Politiker in Bern sollten genau hinschauen.

Meine Prognose: Es wird ein zäher Kampf, aber die Britten werden in zehn Jahren besser dastehen als vorher. Und die EU (nicht zu verwechseln mit Europa) wird durch diesen unnötigen Aderlass lernen, künftig vorsichtiger mit rebellierenden Mitgliedländern umzugehen. Mit England verliert sie ihren zweitgrössten Nettozahler und hellsten liberalen Stern.

Chris von Rohr (68) ist Bestseller-Autor und Rockmusiker. Mindestens zweimal jährlich besucht er London.

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