Thomas Randele (†71) litt an Lungenkrebs und spürte, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Er hatte gerade seine erste Chemotherapie hinter sich. Er lag auf der Couch, schaute in einem Vorort von Boston (USA) mit seiner Tochter eine Krimisendung und sagte plötzlich: «Ich musste auch meinen Namen ändern. Die Behörden suchen wohl auch noch nach mir.»
Als sie nachhakt, verriet er alles: Er heisse eigentlich Theodore Conrad – und er sei ein Bankräuber, der seit 50 Jahren auf der Flucht ist. Im Alter von 20 Jahren hatte er in Ohio eine Bank um 215'000 Dollar erleichtert.
«Oh mein Gott, das ist mein Vater»
Ashley Randele war geschockt, wie sie CNN erzählt: «Ich war allein in meinem Kinderzimmer und googelte ‹Ted Conrad vermisst›, und das Erste, was auftauchte, war so etwas wie ‹Tresorkassierer raubt Bank aus›. Ich dachte nur: ‹Oh mein Gott, das ist mein Vater›.»
Mit jedem Klick fand sie mehr über ihren Vater und seine dunkle Vergangenheit heraus. Es war einer der grössten Coups der Geschichte Ohios. Randele liess sich 1969 vom Film «Die Thomas Crown Affäre», ein Film über einen Bankraub, inspirieren.
Er arbeitete als Kassier in einer Bank und an einem Freitag, kurz vor der Schliessung, ging er in den Tresorraum und packte 215'000 Dollar – was heute rund 1,7 Millionen Dollar wären – in eine Tüte. Darüber legte er eine Stange Zigaretten und eine Flasche Whisky. Dann spazierte er seelenruhig aus der Tür – und verschwand.
Zwei Tage Vorsprung
Erst am Montag, zwei Tage später, wurde der Diebstahl bemerkt und das FBI eingeschaltet. Nach Randele wurde landesweit gefahndet, sein Konterfei auf die Titelseiten gedruckt. Doch der junge Mann blieb verschwunden. 50 Jahre lang. Er zog nach Boston, verschaffte sich eine neue Sozialversicherungsnummer und einen Führerschein unter dem neuen Namen und liess ein altes Leben hinter sich.
Einen Tag nach dem Geständnis ihres Vaters verriet Ashley das Geheimnis ihrer Mutter Kathy. «Sie hat sich die Artikel im Internet durchgelesen und immer wieder gesagt: 'Oh mein Gott! Oh, mein Gott', und das 10 Minuten lang», sagte Ashley Randele. «Sie kannte ihn seit fast 40 Jahren, und dieses Geheimnis zu erfahren – ich kann mir nicht vorstellen, wie traumatisierend das für sie war.»
Er verliess das Land nie
Ashley Randele sagt, dass nun kleine Besonderheiten ihres Vaters endlich Sinn ergäben. So habe ihr Vater immer einen Bart getragen und er habe in der Öffentlichkeit nie seine Baseball-Mütze ausgezogen. Und er habe nie das Land verlassen – obwohl ihn seine Frau und seine Tochter anflehten, nach Frankreich zu fahren. Heute weiss sie: Er hatte schlicht und einfach keinen Reisepass unter seinem falschen Namen.
Ashley und Kathy Randele beschlossen, das Geheimnis von Thomas Randele erst ein Jahr nach dessen Tod den Behörden mitzuteilen. Sie habe nicht gewollt, dass ihr kranker Vater noch ins Gefängnis müsse, sagt die Tochter gegenüber CNN.
Thomas Randele starb im Mai 2021, zwei Monate nach seinem Geständnis. Im November 2021 standen plötzlich US-Bundesbeamte vor der Türe. Sie hatten durch einen anonymen Tipp einen Hinweis darauf gekriegt, dass der verstorbene Randele wohl der gesuchte Bankräuber sei. Folgen für die Familie hatte die Enthüllung aber nicht.
In einem Podcast spricht Tochter Ashley nun erstmals über den Fall und den Schock, den das Geständnis ausgelöst hatte. «Ich konnte damals nicht wütend auf ihn sein, denn das kam mir irgendwie ungerecht vor. Ich war erst in der Lage, wütend zu sein, nachdem er gestorben war.» Dennoch hegt sie keinen Groll gegen ihn: «Er war der beste Vater, den man sich wünschen kann.» (neo)