Gelassen, entspannt. Kenneth Reams' Stimme klingt wie die von jemandem, der sehr viel Zeit hat. Dabei bleiben für das Gespräch, das BLICK mit ihm über das Telefon der Dokumentarfilmerin Anne-Frédérique Widmann führt, maximal 30 Minuten. Dann schliesst sich hinter dem Ex-Todeszellen-Kandidaten wieder die Zellentür. Obwohl sein Todesurteil aufgehoben wurde, lebt er noch immer isoliert in einer 2 x 3 Meter grossen Zelle mit nur zwei 10 Zentimeter breiten Fenstern, durch die er nichts sieht – ausser der gegenüberliegenden Wand. Dass er hier mit 18 Jahren landete, verdankt er einem Raubüberfall, der fürchterlich schieflief. Der Staatsanwalt bot ihm einen Deal an, doch Reams lehnte ab. Eine Jury aus elf Weissen und einem Schwarzen verurteilte ihn zum Tode.
BLICK: Sie hätten es sich vor 26 Jahren einfacher machen können: Hätten Sie auf schuldig plädiert, hätten Sie «nur» lebenslänglich bekommen. Haben Sie Ihre Entscheidung je bereut?
Kenneth Reams: Nein. Weil ich ja an die Gerechtigkeit geglaubt habe und nie gedacht hätte, dass mich eine Jury in die Todeszelle schickt.
Was ist für Sie Gerechtigkeit?
Das versuche ich immer noch herauszufinden. Ich war 18, als ich hier reinkam. Da wusste ich gar nichts. Heute bin ich ein mittelalter Mann. Ich bin gebildeter. Ich weiss, dass es ungerecht ist, dass ich hier sitze.
Was hat sich für Sie verändert, seit das Todesurteil vor zweieinhalb Jahren aufgehoben wurde?
Es ist schwieriger. Als klar war, dass ich nicht exekutiert werde, habe ich versucht, einen neuen Prozess zu bekommen. Aber es ist nichts passiert. Ich sitze immer noch in der Todeszelle. Sie können mich halt nicht umbringen. Aber worüber soll ich dann weinen, worüber mich beschweren? Wofür kämpfe ich dann?
Sie leben in einer Zelle, die nicht grösser ist als ein Badezimmer. 23 Jahre mit einem Todesurteil. Wie sehen Ihre Tage aus?
Das schwankt. Es gab Wochen, da habe ich versucht, einfach alles wegzuschlafen. Jetzt versuche ich, meine Zeit zu nutzen: Ich male und lese. Ich meditiere jeden Tag. Ich halte auch Vorträge und beantworte Fragen, für Schulklassen zum Beispiel. Heimlich über das Telefon halt, weil ich nicht raus darf. Nur weil ich hier drin sein muss, heisst das nicht, dass mein Leben nicht auch draussen stattfinden kann.
Kenneth Reams ist erst 18, als er im Dezember 1993 wegen Verbrechens, das er nicht begangen hat, zum Tode verurteilt wird. Dabei wollte er mit seinem Freund Alford Goodwin eigentlich nur 50 Dollar erbeuten – für den Talar, damit Alford sein High-School-Zeugnis entgegennehmen kann. Die beiden stoppen ein Auto an einem Geldautomaten, Goodwin soll den Fahrer von der Beifahrerseite aus bedrohen. Doch der Raubüberfall geht schief. «Als ich gerade auf der Fahrerseite durchs Fenster nach den Schlüsseln greifen will, fällt plötzlich ein Schuss», erinnert sich der heute 44-jährige Reams, der in ärmlichen Verhältnissen in Pine Bluff (Arkansas) aufwuchs. Er nimmt im Gegensatz zu seinem Freund den Deal der Staatsanwaltschaft nicht an – und wird wegen «Kapitalverbrechens» zum Tode verurteilt, obwohl er die Waffe nicht hielt, den tödlichen Schuss nicht abgab. Goodwin sagt dies später aus, der Richter glaubt ihm. Das Todesurteil wird im April 2017 zwar aufgehoben, doch Reams sitzt noch immer in der Isolationszelle. Die Justiz verschleppt selbst die Verlegung. Erst vor rund zwei Wochen entschied der Bezirksstaatsanwalt, den Fall nicht neu aufzurollen. Die Schweizer Filmemacherin Anne-Frédérique Widman (54) hat in den Jahren 2016 und 2017 zahlreiche Telefongespräche mit Reams geführt und mit Freunden und Familie gesprochen. Entstanden ist der Dokumentarfilm «Free Men».
Kenneth Reams ist erst 18, als er im Dezember 1993 wegen Verbrechens, das er nicht begangen hat, zum Tode verurteilt wird. Dabei wollte er mit seinem Freund Alford Goodwin eigentlich nur 50 Dollar erbeuten – für den Talar, damit Alford sein High-School-Zeugnis entgegennehmen kann. Die beiden stoppen ein Auto an einem Geldautomaten, Goodwin soll den Fahrer von der Beifahrerseite aus bedrohen. Doch der Raubüberfall geht schief. «Als ich gerade auf der Fahrerseite durchs Fenster nach den Schlüsseln greifen will, fällt plötzlich ein Schuss», erinnert sich der heute 44-jährige Reams, der in ärmlichen Verhältnissen in Pine Bluff (Arkansas) aufwuchs. Er nimmt im Gegensatz zu seinem Freund den Deal der Staatsanwaltschaft nicht an – und wird wegen «Kapitalverbrechens» zum Tode verurteilt, obwohl er die Waffe nicht hielt, den tödlichen Schuss nicht abgab. Goodwin sagt dies später aus, der Richter glaubt ihm. Das Todesurteil wird im April 2017 zwar aufgehoben, doch Reams sitzt noch immer in der Isolationszelle. Die Justiz verschleppt selbst die Verlegung. Erst vor rund zwei Wochen entschied der Bezirksstaatsanwalt, den Fall nicht neu aufzurollen. Die Schweizer Filmemacherin Anne-Frédérique Widman (54) hat in den Jahren 2016 und 2017 zahlreiche Telefongespräche mit Reams geführt und mit Freunden und Familie gesprochen. Entstanden ist der Dokumentarfilm «Free Men».
Halten Kunst, Lesen und Meditation Sie davon ab, zu verzweifeln?
Das und die Menschen um mich herum – inklusive meiner Frau Isabelle. Ich habe sie vor mehr als einem Jahrzehnt kennengelernt, da wollte ich mich gerade aufgeben. Sie hat mich davon abgehalten.
Was bedeutet Ihre Frau Isabelle für Sie?
Die Welt. Sie ist der Grund, dass ich so hart kämpfe, wie ich nur kann. Manche gewinnen in der Lotterie und haben das Gefühl, jetzt ist alles gut. Ich weiss, wenn ich aus dem Gefängnis laufe, mit Isabelle an meiner Seite, dann wird sich das genauso anfühlen.
Glauben Sie, Sie hätten sich auch verliebt, wenn Sie nicht im Gefängnis wären?
Das weiss ich nicht. Es wäre auf jeden Fall anders gewesen. Und ich weiss nicht mal, ob ich sie jemals getroffen hätte – sie ist ja Französin.
Sie haben jemanden geheiratet, den Sie zuvor noch nie berührt hatten.
Dafür muss man verstehen, was Liebe ist. Das ist ja nicht nur physisch. Ich glaube, Liebe ist viel mehr. Isabelle geht es genauso. Deswegen haben wir uns ineinander verliebt.
Was ist für Sie Liebe?
Liebe, das sind viele Dinge. Frieden, Freundlichkeit, ein Ziel. Ich weiss nicht, ob Sie gerade jemanden lieben – aber da ist so eine innere Ruhe. Du kannst bei jemandem sein, ohne dich beurteilt zu fühlen.
Kraft geben Kenneth Reams in der Isolationszelle nicht nur Kunst, Literatur und Meditation, sondern vor allem seine Frau Isabelle (52). Die Künstlerin aus Montpellier (F) hörte vor rund 15 Jahren von seinem Fall – und schickte ihm einen Brief. Die beiden begannen, sich regelmässig zu schreiben, verliebten sich ineinander. Gemeinsam gründeten sie die gemeinnützige Organisation «Who decides», die die Todesstrafe mit Hilfe von Kunst dokumentieren will. Isabelle organisiert in Europa Ausstellungen für die Bilder, die Reams in der Zelle malt. Am 12. April 2017 heirateten sie – im Gefängnis. Bei der zehnminütigen Zeremonie durften sie sich das erste Mal berühren und küssen – allerdings nur eine Minute lang.
Kraft geben Kenneth Reams in der Isolationszelle nicht nur Kunst, Literatur und Meditation, sondern vor allem seine Frau Isabelle (52). Die Künstlerin aus Montpellier (F) hörte vor rund 15 Jahren von seinem Fall – und schickte ihm einen Brief. Die beiden begannen, sich regelmässig zu schreiben, verliebten sich ineinander. Gemeinsam gründeten sie die gemeinnützige Organisation «Who decides», die die Todesstrafe mit Hilfe von Kunst dokumentieren will. Isabelle organisiert in Europa Ausstellungen für die Bilder, die Reams in der Zelle malt. Am 12. April 2017 heirateten sie – im Gefängnis. Bei der zehnminütigen Zeremonie durften sie sich das erste Mal berühren und küssen – allerdings nur eine Minute lang.
Hat das Gefängnis Ihr Verständnis von Liebe geändert?
Bis ich Isabelle traf, wusste ich einfach gar nicht, was Liebe überhaupt ist. Klar hatte ich Freundinnen, aber das war keine Liebe. Und noch mal: Ich war ein Junge, ein Teenager.
Ihre Mutter schlug Sie, als Sie klein waren. Sie hat Sie im Gefängnis kaum besucht. Hassen Sie sie?
Nein. Ich hasse niemanden. Da, wo ich herkomme, ist der Alltag ein Kampf. Es herrschen Armut und Negativität. Wenn du da lebst, versuchst du, das Beste rauszuholen – du machst nichts aus böser Absicht.
Das klingt sehr weise.
Die Zeit in der Todeszelle hat mir geholfen, das Leben zu verstehen. Früher habe ich nur gelernt, dass das Leben eben scheisse ist. Jetzt kann ich vergeben und halte Menschen ihre Taten nicht vor.
Gibt es Hoffnung, dass Sie bald ein freier Mann sind?
Es gibt immer Hoffnung.
Was machen Sie als Erstes, wenn Sie freikommen?
Reisen. Das Meer sehen, zum ersten Mal. Den Pazifik oder den Golf von Mexiko. Ich möchte barfuss ins Wasser laufen.
Ein Geräusch unterbricht das Gespräch.
Oh, ich habe nur noch zwei Minuten.
Möchten Sie noch etwas sagen?
Ja: Danke. Sie können unser Gespräch aufschreiben. Bitte machen Sie das. Wenn es irgendjemandem Mut macht, nie aufzugeben, wäre das toll.