Schwester Lorena rettet Frauen in Papua-Neuguinea
Diese Schweizer Nonne kämpft gegen Hexenverbrennungen

Das ist die Geschichte der Schweizer Ordensschwester Lorena. Einer mutigen Frau, die am anderen Ende der Welt gegen Hexenverfolgungen kämpft – und dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel setzt.
Publiziert: 07.12.2019 um 13:14 Uhr
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Aktualisiert: 23.09.2020 um 20:22 Uhr
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Die Baldegger Schwester Lorena lebt seit 40 Jahren in Papua-Neuguinea. Seit rund zwölf Jahren kämpft sie gegen ein neues, grausames Phänomen: den Hexenwahn.
Foto: Daniel Kellenberger
Alexandra Fitz

Schwester Lorena reicht einem die Hand, legt ihre zweite beschützend drauf und verweilt erst einmal in diesem Sandwich aus Händen. Das Gegenüber fühlt sich wohl. Geschätzt. Die Bündnerin spricht jeden mit Du an. «Ich habs nicht so mit Formen.» Später wird sie erzählen, dass sie auch Bischöfe und Kardinäle duzt. «Weisch», sagt sie, «ich weiss gar nicht, was das soll, wir sind alle gleich.»

In einem Dachstuhl in Glarus haben sich Leute um die Ordensschwester versammelt. Sie wollen sie begrüssen, sich bedanken. Schwester Lorena hört den Menschen zu. Fragt. Hört zu.

Aber an diesem Abend ist sie es, die etwas Wichtiges zu sagen hat. Die 69-Jährige hält in einer ehemaligen Textilfabrik einen Vortrag über den Hexenwahn, der sich in ihrer Wahlheimat Papua-Neuguinea etabliert hat. Es könnte keinen passenderen Ort geben als das Anna Göldi Museum, in dem die Geschichte der letzten Hexe, die in Europa hingerichtet wurde, erzählt wird. «Publikumsrekord», sagt Museumsleiter Fridolin Elmer an diesem Abend Ende Oktober.

«1000 Geschichten könnte ich euch erzählen», sagt Schwester Lorena. Aber sie ist hier wegen einer ganz bestimmten. Um von einem fernen Land zu berichten. Von einem Flecken, in den sie sich vor über 40 Jahren verliebt hat. Den sie Paradies nennt. Der seit ein paar Jahren aber eher der Hölle gleicht. Um das zu verstehen, nimmt die Schweizerin die Zuhörer mit in die Provinz Südliches Hochland, im Inneren von Papua-Neuguinea.

Politik und Polizei sind korrupt

Es ist 1979. Seit zehn Jahren sind die Baldegger Schwestern, ein in Baldegg bei Hochdorf LU gegründeter Franziskaner-Frauenorden, im Inselstaat im Pazifik. Ihre Aufgabe: missionieren. Lorena trifft auf Männer mit Lendenschurz und Frauen im Grasrock. Die Natur ist üppig und fruchtbar, die Menschen herzlich und dankbar. Papua-Neuguinea ist faszinierend. Und gefährlich.

Das südliche Hochland hinkt der Entwicklung hinterher. Politik und Polizei sind korrupt. 67 Prozent Analphabeten. Schwester Lorena erzählt von Sippenkämpfen, die sie erlebte, mit über 300 Toten. Des Öfteren stand sie, die deren Hauptsprache, das Tok Pisin, erlernte und die dem Glarner Publikum nun zur Demonstration eigenartige Laute vorlallt, mit einem Megafon zwischen verfeindeten Gruppen und vermittelte. Die weisse Frau mit Habit und silbernem Kreuz sagte den schwarzen Männern mit Kriegsbemalung, sie sollen ihre Macheten niederlegen.

Das grausame Phänomen «Hexenwahn»

Die Männer Papua-Neuguineas haben einen neuen Feind. Die Frauen. Seit zehn Jahren mehren sich Hexenverfolgungen und sexualisierte Gewalt in der Provinz. 2012 gab es den ersten Fall, bei dem eine Frau öffentlich angeklagt, entblösst, gekreuzigt und verbrannt wurde.

Warum?

«Über Nacht wurde diese indigene Bevölkerung ins modernste Zeitalter katapultiert.» Von der Steinaxt zum Handy – in 50 Jahren. «Dieser kleine, verfluchte Kasten», schimpft Schwester Lorena das Smartphone, sei schuld. Sie sehen Filme über Gewalt – und werden mit Pornografie konfrontiert. Wo sie vermittelt bekämen, Sex sei nur befriedigend, wenn man die Frauen leiden sehe. Die Menschen seien total überfordert.

Perfekter Nährboden für das Übernatürliche. Stirbt jemand in der Dorfgemeinschaft, muss einer schuld sein. Ein Sündenbock wird gesucht. Gefunden wird er unter den Frauen mit starkem Charakter. Sie werden als «Sanguma» beschimpft. Als Hexe. Die Männer zerren sie auf den Dorfplatz, ziehen sie aus, binden sie fest. Sie entfachen ein Feuer, halten Eisenstangen und Macheten in die Flammen und verbrennen sie. Am Unterleib, an den Armen, an den Brüsten, im Gesicht. Die Menge gafft. Die Folterung dauert so lange, bis die Frauen gestehen. Gestehen, dass sie Hexen sind. Gestehen, damit sie überleben.

Drei Tage lang Eisenstangen in den Unterleib gerammt

Lorena will die Täter ins Gefängnis bringen. «Wir sind dran, aber es braucht Zeit», sagt sie. Mit ihrem weissen Suzuki-Jeep fährt sie die Region auf und ab, um aufzuklären, dass es keine Hexen gibt, um Hexenprozesse zu stoppen, oft auch, um die verletzten Frauen rauszuholen und an einem sicheren Ort zu verstecken. Sally, Christina, Margret … 59 Fälle in vier Jahren. Allein in der Region Mendi, der Provinzhauptstadt. Dunkelziffer unbekannt. Vier sind verstorben. So wie Teno, der Eisenstangen in den Unterleib gerammt wurden.

Sista Lorena, wie die Papuas sie nennen, spürt die Frauen auf, hält sie in den Armen, bringt sie fort, sucht ein neues Leben für sie. Meist können die Frauen nicht nach Hause zurück. Oft sind es ihre eigenen Männer, die sie der Hexerei bezichtigen.

So wie bei Sally. «Lorena, ich kann das Feuer nicht vergessen», sagt ihr Sohn Jonathan, der zusah. «Die gefolterten Mütter können ihre Kinder lange nicht umarmen, ich mach das für sie», sagt Lorena. Dann zieht sie ihre Nase hoch, um ihre Augen bilden sich Fältchen, ihre grünen Augen leuchten. Der siebenjährige Jonathan rannte vor die Menschenmenge und rief: «Bitte helft mir, meine Mama aus dem Feuer zu holen! Ich bin doch noch viel zu klein, um ohne Mama zu leben!» Seine Mutter war fünf Monate im Spital. Heute wohnt Sally wieder bei ihrem Mann.

Schwester Lorena ist nicht belehrend

Lorena beschäftigt die Frage: Wie können Menschen so grausam sein? «Ich habe keinen Mann und keine eigenen Kinder, die ich schützen muss. Also schaue ich zu den Menschen in Papua-Neuguinea.» Auch wenn die Glaubensvermittlung der Ursprung war, Lorena geht es darum aufzuzeigen, dass Frauen gleichberechtigt sind. Ein Grosscousin Lorenas sagt über sie: «Für mich ist sie keine typische Klosterfrau, sondern eine Pfadfinderin.» Ihr Neffe, der bereits zwei Mal in Papua-Neuguinea war, meint: «Meine Tante ist nicht belehrend, nicht missionarisch. Das war sie noch nie.»

In der Kirche las sie früher Romane

Lorena wird 1950 in den Bündner Bergen als Friederike geboren. Als ältestes von fünf Kindern und als einziges «Meitschi». Das «Meitschi» stand beim Vater besonders hoch im Kurs. Religiös sei man gewesen. Jeden Tag musste sie vor der Schule in die Kirche. «Aber ich wusste mir zu helfen», verrät Lorena. «Ich las Romane während der Messe.»

Schwester Lorena sitzt jetzt, ein paar Wochen nach ihrem Vortrag in Glarus, im Kloster Baldegg, das als 60er-Jahre-Bau so gar nicht an ein Kloster erinnern mag, und erzählt von ihrer Kindheit, ihrem Wunsch, eine Familie zu gründen und weshalb sie es doch nicht tat.

Wenn der Pfarrer ins Haus kam, um sich vom Vater die Haare schneiden zu lassen, schaute man, dass das Mädchen nicht da war. «Ich habe ein bisschen provoziert», sagt Lorena. «Ich war ein Wildfang.» Wie sie das meine? «Ich bin einfach ich. Bis heute.» Und dann zieht sie wieder ihre Nase hoch, um ihre Augen bilden sich Fältchen, ihre grünen Augen leuchten. Stur sei sie gewesen, stur wie die Berge. Das Aufwachsen in einer Männerwelt helfe ihr, in einer patriarchalen Gesellschaft wie der in Papua-Neuguinea klarzukommen. «Ich kann gut mit Männern», sagt Lorena.

«Du darfst alles! Ausser ins Kloster!»

Die Grossmutter ist für die kleine Friederike alles. Bis heute kann sie den Satz ihrer Grossmutter nicht vergessen: «Du darfst alles, Kind – aber nicht ins Kloster!» Doch genau das tut das Mädchen. Es trifft eine Baldegger Schwester und ist fasziniert. Mit 20 tritt Friederike ins Kloster ein. Und der Traum von der eigenen Familie? «Ich wollte fort von Samnaun. Die Berge sind zwar mein Zuhause, aber das Tal ist mir zu eng. Und ich wollte meinen Traum niemand anderem aufzwingen.» Freiheit nennt Schwester Lorena das.

Die Bündnerin war immer schon eine, die gekämpft hat und ihren eigenen Kopf hatte. Friederike Jenal ist keine gewöhnliche Ordensschwester und «Lorena» keine Heilige. Die junge Frau wollte diesen Ordensnamen. Bei der Aufnahme ins Noviziat bekam sie zu hören: «Ich finde keine Lorena im Heiligenverzeichnis.» – «Die gibt es auch nicht, aber heilig bin ich trotzdem», entgegnete sie. Friederike bekam den Namen.

Messer am Hals, Pistole auf der Brust

Im Kloster blieb Lorena nicht lange. Sie wollte Missionsschwester werden. Weil es sie in die Welt hinauszog. Was sagten die Eltern? «Jerrgott!», ruft Lorena. Was Samnaunerisch ist und «Jesses Gott» bedeutet. Wenn das einzige Mädchen fortgeht, gibt es zu Hause natürlich Krach. Die Eltern konnten sie nicht verstehen. Die ersten fünf Jahre kam Schwester Lorena gar nicht nach Hause.

Als der Vater stirbt, ist Lorena an seiner Seite. Und versöhnt sich mit ihrer Mutter. Sie wird später auch an ihrem Sterbebett sitzen. Mittlerweile besucht sie ihre Heimat jedes Jahr. Manchmal muss sie sogar. Schon oft hatte die Schweizerin das Messer am Hals oder die Pistole auf der Brust.

Von den Tätern, die die Frauen gefoltert haben? Auch. Vor allem von der Polizei. Erbost darüber, dass sie ihnen in die Arbeit pfuscht. Eine Weisse. Eine Frau. Wird Schwester Lorena mit dem Leben bedroht, kommt auch sie an ihre Grenzen und braucht Abstand. Sitzt sie im Flieger, sagt sie zu sich: «Gottlob, kann ich von allem weg.»

2018 erhält sie den Menschenrechtspreis der Stadt Weimar

Manchmal sagt sie den Männern: «Tötet mich! Aber schnell, ich will nicht leiden!» Und manchmal, da schlägt sie sie mit ihren eigenen Waffen. «Knall mich ab!», sagte sie einem Polizisten. «Du wirst nur meinen Körper töten, mein Geist wird weiterleben.» Normalerweise drohe sie nicht, aber da mache sie eine Ausnahme. «Wehe dir, mein Geist wird dich plagen!»

Sie provoziere halt, meint Schwester Lorena. Auch in der Schweiz. Kürzlich riss ihr ein junger Mann im Zug das Handy aus der Hand, beschimpfte sie und stellte sich mit folgenden Worten vor: «Ich bin der Teufel!» – «Oh», sagte die 69-Jährige, «dann haben wir jetzt ein Problem: Ich glaube nicht an den Teufel!» Für ihren Mut wurde Lorena Jenal letztes Jahr mit dem Menschenrechtspreis der Stadt Weimar ausgezeichnet.

«Ich bin glücklich, so wie alles gelaufen ist»

«Wir sind unbequeme Menschen», sagt Lorena über sich und die Aktivisten, die für Gerechtigkeit kämpfen. Sie zeigt auf ein Bild, das sie als junge Schwester in Papua-Neuguinea zeigt, und meint zu Schwester Valentine, die gleichzeitig ins Kloster eintrat und neben ihr steht: «Früher waren wir jung und hübsch, jetzt sind wir nur noch hübsch.» Schwester Valentine muss kichern. Der Altersdurchschnitt im Kloster ist 78. «Wir sterben aus», sagt Lorena. Als sie in den Orden eintrat, waren es über 1000 Baldegger Schwestern, heute sind es noch 216. Später am Tag geht sie an die Beerdigung einer Mitschwester, die vierte in diesem Monat.

Aber sie würde alles wieder genau so machen. «Ich bin glücklich, so wie alles gelaufen ist. Hätte ich heute diese 50 Jahre noch einmal, ich würde sie genau so leben.»

Ende Januar fliegt Schwester Lorena zurück. Der Stadtpfarrer von Baden, ein Jugendfreund, begleitet sie. Sie wird dann mit den Papua ihren 70. Geburtstag feiern. Es wird ein Säuli geschlachtet, und Lorena, die kaum mehr Fleisch isst, wird sich freuen, dass ihre Freunde sich freuen. Längst sagen die Papuas: «Sista Lorena, du bist zwar immer noch weiss, aber innen bist du schwarz wie wir.»

Schwester Lorena will in Papua-Neuguinea bleiben, solange sie kann. Die Menschen im Hochland bitten Lorenas westliche Besucher stets um dasselbe: «Schaut, dass Sista Lorena hier begraben wird.»

Hexenverbrennung früher und heute

Im späten Mittelalter begannen in Europa Hetzjagden auf ­vermeintliche Hexen. Rund 50'000 ­Menschen – vor allem Frauen – verloren ­dabei ihr Leben auf dem Scheiterhaufen.

Thomas von Aquin, einer der bedeutendsten Kirchentheoretiker des Mittelalters,
legt den Grundstein für die späteren ­massenhaften ­Hexenverbrennungen. ­Hexen werden für Ernteausfälle, ­Impotenz und ­Todesfälle verantwortlich ­gemacht. Der ­Theologe Heinrich Kramer verfasste den sogenannten ­«Hexenhammer», der die ­Hexenverfolgung durch die katholische Kirche legitimierte.

Die Schweizerin Anna Göldi war 1782 eine der letzten ­Frauen, die in Europa als Hexe hingerichtet wurden.

Noch heute werden Menschen als angeb­liche Hexen an den Pranger gestellt – man geht von 29 Ländern aus. ­Insbesondere in ­afrikanischen ­Ländern, Indien oder Südamerika – und eben auch in ­Papua-Neuguinea.

Im späten Mittelalter begannen in Europa Hetzjagden auf ­vermeintliche Hexen. Rund 50'000 ­Menschen – vor allem Frauen – verloren ­dabei ihr Leben auf dem Scheiterhaufen.

Thomas von Aquin, einer der bedeutendsten Kirchentheoretiker des Mittelalters,
legt den Grundstein für die späteren ­massenhaften ­Hexenverbrennungen. ­Hexen werden für Ernteausfälle, ­Impotenz und ­Todesfälle verantwortlich ­gemacht. Der ­Theologe Heinrich Kramer verfasste den sogenannten ­«Hexenhammer», der die ­Hexenverfolgung durch die katholische Kirche legitimierte.

Die Schweizerin Anna Göldi war 1782 eine der letzten ­Frauen, die in Europa als Hexe hingerichtet wurden.

Noch heute werden Menschen als angeb­liche Hexen an den Pranger gestellt – man geht von 29 Ländern aus. ­Insbesondere in ­afrikanischen ­Ländern, Indien oder Südamerika – und eben auch in ­Papua-Neuguinea.

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