Der Islamische Staat (IS) zerfällt. Das ausgerufene «Kalifat» der Terrormiliz schrumpft, die Dschihadisten verlieren zusehends an Einfluss. Doch nicht nur IS-Kämpfer sind nun auf der Flucht, sondern auch ihre Familien.
In kurdischen Lagern in Syrien werden Tausende Frauen und Kinder von IS-Kämpfern gefangen gehalten. So auch eine 29-jährige Schweizerin mit bosnischen Wurzeln. Seit 14 Monaten lebt sie mit ihrer zweijährigen Tochter im Camp Roj im Norden Syriens. «Ich bereue es sehr, mit meinem Mann hierher gekommen zu sein», sagt sie zu «20 Minuten». Sie wurde von ihrem Mann, der ebenfalls aus Lausanne kommt, bei ihrer Verhaftung im Frühjahr 2018 getrennt.
«Vor Ort beurteilen»
In den Camps leben IS-Familien aus insgesamt 48 Ländern – die Kurden würden sie gerne in die Heimat zurückschicken. Doch vielerorts ist man wenig erpicht darauf, Dschihad-Rückkehrer aufzunehmen. So auch die neue Justizministerin Karin Keller-Sutter. «Ich würde es bevorzugen, wenn sie vor Ort beurteilt würden», sagte sie letzte Woche zu Radio RTS. Die Sicherheit der Schweizer Bevölkerung habe erste Priorität.
Das versteht die 29-Jährige, die Selina genannt wird, nicht: «Was habe ich denn in der Schweiz verbrochen?», fragt sie. «Ich habe meine Steuern bezahlt, ich habe die Gesetze respektiert, ich habe niemanden terrorisiert.» Sie habe zwar, als sie 2015 nach Syrien reiste, einiges von den Verbrechen der Miliz gewusst – «aber nicht alles». Sie habe sich nicht dem IS angeschlossen, weil dieser Leute köpfte, sondern weil sie nach islamischen Regeln im Kalifat leben wollte.
«Ich bin doch Schweizerin, oder nicht?»
Selina fordert die Schweiz auf, sie wieder aufzunehmen. Sie sagt zu «20 Minuten»: «Ich bin Schweizerin oder nicht? Und die Schweiz ist doch ein Rechtsstaat, in dem die Unschuldsvermutung gelten sollte. Immerhin besteht doch die Möglichkeit, dass wir unschuldig sind. Wenn ich nicht wie eine Schweizerin mit all ihren Rechten behandelt werde, dann entzieht mir die Staatsangehörigkeit!»
Über ihr Leben im Camp ist von der Schweizerin nichts zu erfahren. Doch es muss für sie und ihre blonde Tochter, die während ihrer Zeit beim IS auf die Welt gekommen ist, der Horror sein. Eine 20-jährige Österreicherin, die mit ihrem ebenfalls 2-jährigen Sohn im gleichen Camp lebt, sagt zum «Kurier»: «Mein Bub ist jetzt zwei Jahre alt und die ganze Zeit krank», sagt sie. «Wenn es regnet, durchnässt es das Zelt, der Boden weicht auf und wird zu Morast. Seine Kleider werden einfach nie trocken. Er hustet oft, hatte Lungenentzündungen, dann Angina.» Wenn sie die Kleider bei den eisigen Temperaturen in Bottichen wasche, bekäme sie blutige Hände.
Laut der Österreichischen Zeitung werden 1400 Frauen und Kinder aus dem Islamischen Staat im Camp Roj interniert – getrennt von anderen Vertriebenen. Die Kurden versuchen die Herkunftsländer dazu zu bewegen, sie wieder zurückzunehmen. Bis jetzt mit wenig Erfolg. «Wir wissen nicht, was wir tun sollen. Das übersteigt bei weitem unsere Kapazitäten», sagt der für ihre Rückführung Verantwortliche. «Was mich besonders sorgt, sind die Kleinsten. Die wachsen ohne Bildung, ohne jede Ahnung von Normalität auf. Die Älteren waren in den Schulen der Terrormiliz, die haben Gehirnwäsche und Bombentraining erlebt.» (rey)