BLICK: Herr Welti, seit Tagen gehen die Menschen im Iran nun schon auf die Strassen – und der Protest wird immer lauter. Was ist aus Ihrer Sicht der Auslöser der Unruhen?
Philippe Welti: Dahinter stand anfänglich keine politische Unzufriedenheit, eher eine weit verbreitete wirtschaftliche Frustration. Als nach dem Atomabkommen die internationalen Sanktionen wegfielen, war die Erwartung an ein Wirtschaftswachstum enorm. Doch der Aufschwung blieb bislang aus. Die Arbeitslosigkeit ist noch immer sehr hoch. Die Preise steigen, das Geld fehlt. Der Iran braucht Investitionen für Gross-Projekte. Doch die werden vor allem von der US-Regierung boykottiert.
Wer sind die Leute, die auf die Strasse gehen?
Die Ironie ist, dass es zu Beginn Hardliner waren, die gegen den Präsidenten Hassan Rohani (69) demonstrierten. Jetzt aber sind es weite Kreise, die auf die Strassen gehen: Studenten, Gewerbetreibende, Arbeitslose, Menschen, die nicht direkt vom konservativen Regime profitieren. Darunter gibt es auch viele Frauen, viele sind stark und selbstsicher. Besonders in Städten sind Iraner aufgeklärt und gebildet. Viele sind nicht unbedingt streng religiös; oft stehen die Moscheen leer. Vor allem die Städter wollen in einer globalisierten Welt leben.
Die Proteste drohen zu eskalieren. Über 20 Menschen kamen ums Leben, es gab Hunderte Verhaftungen. Droht dem Iran ein Konflikt, der wie in Syrien enden könnte?
Nein, das kann man nicht vergleichen. Das iranische Volk ist zwar sehr unzufrieden, eine Revolution aber will es nicht – sondern ein besseres Leben. Hinzu kommt, dass der Iraner patriotisch ist. Niemand will syrische Verhältnisse. Solange das Ausland sich nicht einmischt, glaube ich, bleiben die Unruhen ein internes Problem, das der Iran, wenn nötig mit Einsatz der Revolutionsgarden, in den Griff bekommen wird.
Ist der wiedergewählte iranische Präsident Hassan Rohani der richtige Mann für diese unruhigen Zeiten?
Ich denke schon. Ich habe ihn persönlich kennengelernt und halte ihn für einen verantwortungsbewussten Mann. Rohani gehört zum System. Er hat sich aber als Präsident nie auf die konservative Seite geschlagen. Rohani wird versuchen, gewisse Konzessionen zu machen, ohne dabei der geistlichen Führung in den Rücken zu fallen.