Bevor der Schweizer Jonathan Oehrlein (52) am Dienstagabend (Ortszeit) mit dem Auto 40 Minuten zur Arbeit nach Chicago fährt, zieht er Skijacke, Handschuhe und Kappe an. Für alle Fälle. Denn würde der Motor auf der Fahrt plötzlich ausgehen, wäre Oehrlein ohne Winterkleidung in Lebensgefahr.
Im mittleren Westen der USA herrscht brutale Kälte. Bis Freitag strömen polare Luftmassen aus der Arktis in die Region – die Temperaturen fallen auf unter minus 40 Grad! Hart trifft es die Millionen-Metropole Chicago. Hier ist es am Mittwoch minus 29 Grad kalt, wegen der Bise fühlt es sich aber wie minus 45 Grad an. Der Chicago River, der durch die Stadt fliesst, ist gefroren. Der Bürgermeister spricht von einer «historischen Kälte».
Am Strassenrand stehen Schilder mit der Aufschrift «Alert cold» (Achtung Kälte). Der öffentliche Verkehr liegt lahm. Während der nächsten zwei Tage verkehren keine Züge rund um Chicago. Auch der Flugverkehr liegt lahm: Die Swiss annulierte zwei Flüge von und nach Chicago, 256 Passagiere sind betroffen.
Eingefrorene Haare
Seit Sonntag sind acht Menschen der Kälte zum Opfer gefallen. Nordwestlich von Chicago, in Minnesota, erfror ein Mann (†22), weil er seine Hausschlüssel vergessen hatte. In der Hauptstadt des Bundesstaats brachen die Temperaturen von minus 28 Grad am Dienstag alle Rekorde der letzten 100 Jahre. Der Wetterdienst warnt: «Nicht zu tief einatmen!»
In Iowa gefroren sogar die Haare einer Frau. Auf Twitter postete Taylor Scallon ein Video, auf dem ihre Mähne vertikal nach oben zeigt. Die nassen Haare der Brünette gefroren umgehend bei den eisigen Temperaturen.
Generell empfehlen die Behörden, lieber drinnen zu bleiben. Oehrleins Sohn Jethro (12) hat am Mittwoch und Donnerstag schulfrei. «Es ist zu gefährlich. Die Kinder wären zu lange der Kälte ausgesetzt, während sie beispielsweise auf die Schulbusse warten», so der Vater. Auch seine Frau müsse nicht zur Arbeit. Das Büro habe geschlossen.
Zwischendurch geht die Familie aber trotzdem raus, um mit Hund Jessie (2) Gassi zu gehen. Länger als fünf Minuten sei die Kälte aber nicht zu ertragen. Oehrlein: «Wenns windet, kann man nur mit Gesichtsmaske vor die Tür. Sonst schmerzt die Haut, das ist unerträglich.»
Wie lange hält die Kälte noch an?
Eigentlich sind sich die Bewohner in Chicago die Kälte gewöhnt. In den Wintermonaten gefrieren die Seen in der Region – das ist normal. Doch dieses Jahr ist es anders. «Normalerweise sind wir auf den gefrorenen Seen Schlittschuh laufen gegangen. Aber eben, jetzt ist das wegen den Temperaturen viel zu gefährlich», sagt Oehrlein.
Den freien Tag verbringt die Familie deshalb zu Hause. Am frühen Morgen hat der 52-Jährige Feierabend, er überwacht für ein Finanzunternehmen den Schweizer und den asiatischen Markt. «Wir nutzen die Zeit, um die Weihnachtsdekoration abzuhängen. Das wird langsam Zeit», so der gebürtige Zuger.
Aufs Wochenende hin sollte sich Väterchen Frost dann verziehen. Wetterprognosen rechnen mit drei bis fünf Grad. Oehrlin witzelt: «Dann haben wir endlich wieder Sommer!»