Der Autor und Arzt André Seidenberg machte sich in den 80er- und 90er-Jahren einen Namen als Mediziner in der Zürcher Platzspitz-Drogenszene. Er erlebte mit dem HIV-Virus schon damals die Verbreitung einer Infektionskrankheit, über die man wenig wusste. Seidenberg hat klare Aussagen zur Corona-Krise. Im Gespräch mit der «NZZ» zeigt er sich erstaunt, wie sich Politik und Behörden überschätzt und die Krise unterschätzt hätten.
Die Unterdrückung einer zweiten Welle mittels rigoroser, effizienter Organisation habe man verpasst. Mögliche Infizierte seien per Contact-Tracing zu langsam identifiziert, kontaktiert und isoliert worden, so Seidenberg. Sonst «wäre es möglich gewesen, die zweite Welle zu unterdrücken. Das haben die Behörden verpasst.»
Dennoch sei hundertprozentiger Schutz eine Illusion. Seidenberg rechnet mit einer «grossen Chance, dass wir uns alle früher oder später infizieren». Seiner Schätzung nach könnten in der Schweiz 20'000 bis 40'000 Menschen an Covid-19 sterben. Rund fünf Prozent der Erkrankten würden einen dauerhaften gesundheitlichen Schaden erleiden.
«Kontrolle über Epidemie verloren»
Seidenberg plädiert für Realismus in der Krise. «Wenn Massnahmen zu weit gehen, werden sie nicht mehr befolgt.» Er spüre bereits grossen Unwillen im Volk, die Gesellschaft polarisiere sich. Freiheitsbeschränkungen müssten sorgfältig überlegt sein. Das Mass sei noch nicht voll: «In der Schweiz dauert es sicher länger als in anderen Ländern, bis es zum Volksaufstand kommt.»
Jetzt angeordnete Massnahmen würden vermutlich auch nicht nur die nächsten ein oder zwei Monate, sondern wahrscheinlich zwei Jahre dauern. Die Vorstellung sei illusorisch, das Virus kurz- oder mittelfristig kontrollieren zu können: «Wir haben die Kontrolle über diese Epidemie verloren», sagt Seidenberg.
In der Zürcher Drogenszene in den 80er- und 90er-Jahren habe er mit Aids ebenfalls eine Seuche miterlebt, die aus dem Ruder gelaufen war. Er habe «viel Leid und Elend gesehen». Eines der grossen Probleme damals sei gewesen, dass man zu Beginn sehr wenig darüber wusste. Die Unsicherheit «wurde nur langsam überwunden, indem das Wissen über die Krankheit wuchs». Auch damals habe es Verschwörungstheoretiker und Realitätsverleugner gegeben. Die seien «mit der Zeit verschwunden». (kes)