Sandoz und Ciba-Geigy brauchten DDR-Bürger als Versuchskaninchen
Schweizer Medi-Tests hinter der Mauer

Über 220 Experimente an mehr als 14 000 Menschen in der DDR. Mittendrin: die heutige Novartis.
Publiziert: 07.11.2014 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2018 um 21:59 Uhr
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Die Basler Pharmaindustrie hat über 2,5 Millionen Mark für Experimente in der Deutschen Demokratischen Republik bezahlt.
Von Jean François Tanda

Für seine Studie, die er im «British Medical Journal» veröffentlichte, hat der deutsche Medizinhistoriker und -ethiker Rainer Erices (45) zahlreiche Dokumente sowie Archive durchforstet und dabei Erschreckendes gefunden: Allein von 1983 bis 1989 haben die damaligen Basler Pharmakonzerne Sandoz und Ciba-Geigy der DDR über 2,5 Millionen D-Mark (rund 2,1 Mio. Franken) bezahlt und in 30 Versuchen Medikamente an Menschen ausprobiert. Laut Erices ist es fraglich, wie umfassend und ob die Pa­tienten überhaupt aufgeklärt wurden: «Ich gehe nach Aktenlage davon aus, dass die Bevölkerung nicht breit informiert wurde.»

Getestete Medikamente werden teils heute noch verkauft

Einige der damals getesteten Präparate sind noch heute im Verkauf. Eines davon ist Miacalcic, das bei schmerzhaften Knochenkrankheiten oder zur Prävention von Knochenschwund verschrieben wird. «Miacalcic war ­eines der ersten Medikamente, die im Osten getestet wurden», sagt Erices. Laut Vertrag von 1984 sollten 48 Patienten das Medikament ausprobieren. Der Versuch kostete Sandoz gerade mal 50 000 Franken. Miacalcic ist immer noch zugelassen und im Verkauf.

Auch das Novartis-Mittel Parlodel, das bei Parkinson oder Ausbleiben der Monatsblutung eingesetzt wird, wurde in der DDR ausprobiert – mehrmals. Dafür kassierte die DDR rund 250 000 Mark.

Weitere 120 000 Mark gab es dafür, dass 300 Menschen Heparin ausprobierten, ein Mittel von Sandoz zur Vorbeugung gegen Thrombosen und Embolien. Für Experimente mit dem Blutdrucksenker Bunazosin an 234 Patienten blätterte Sandoz rund 400 000 Mark hin.

Der damalige Basler Lokalkonkurrent Ciba-Geigy testete das Antidepressivum Levopro­tilin an 20 Patienten der Universitätsklinik Jena. Die Krankenakten der damaligen menschlichen Versuchskaninchen sind heute grösstenteils verschollen.

Novartis bemühe sich um Aufarbeitung

Ein Novartis-Sprecher sagt dazu, man unterstütze als «Unternehmen mit hohen ethischen und moralischen Ansprüchen» derzeit eine Studie zur Aufarbeitung der DDR-Tests: «Wir engagieren uns mit allen nötigen zeitlichen und personellen Ressourcen.» Eine interne Projektgruppe gehe derzeit im Auftrag der Forschungsgruppe die hausinternen Archive durch.

Die Basler Pharmafirmen – auch Roche führte zwei Tests durch – waren nicht die einzigen Westfirmen, die im Osten Präparate ausprobierten. Syntex gehört seit 1994 zu Roche. Noch 1989 bezahlte das Unternehmen über 100 000 Mark für 35 Testerinnen für das Hormonmittel Nafarelin.

Die heutige Novartis war mit ihren Experimenten ganz vorne dabei. Nur Boehringer Mannheim führte mehr Versuche durch und nur Hoechst bezahlte mehr. Erstere gehört seit 1997 zu Roche, Letztere zum Pariser Pharmaunternehmen Sanofi.

In insgesamt weit über hundert Einrichtungen Ostdeutschlands, so Medizinethiker Erices, hätten Westfirmen ihre Tests durchgeführt. Die meisten Experimente seien Phase-II- und Phase-III-Tests gewesen, die jedes Medikament durchlaufen muss.

Die Experimente im Osten waren eine Win-win-Situation: Die Pharma-Multis konnten ihre Präparate billig testen, für die DDR unter der Führung Erich Honeckers waren die Devisen willkommener Zustupf in die leeren Staatskassen. Verlierer waren die Patienten, die häufig nicht wussten, dass sie Versuchskaninchen waren. Einige verstarben bei solchen Versuchen.

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