«Die Schweiz muss bibbern», «Blackout-Planung», «Heiz-Polizei». Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat in Europa – und auch in der Schweiz – für Angst gesorgt. Nicht nur wegen des Kriegs, sondern auch wegen des Ausbleibens russischer Gaslieferungen an die EU.
Doch die Angst vor einem kalten Winter und leeren Gasspeichern hat sich in Europa bislang nicht bewahrheitet. Im Januar 2023 waren die EU-Gasspeicher zu 81,7 Prozent gefüllt, wie Daten des Europäischen Rats zeigen. Für die Schweiz – die ihr Gas vor allem aus EU-Ländern bezieht – eine gute Nachricht.
Und nicht nur das: Auch die Abhängigkeit von russischem Pipeline-Gas konnte 2022 deutlich verringert werden – im vergangenen Jahr sank der Anteil von russischem Gas von 30 auf 10 Prozent. «Einerseits wurde der Verbrauch reduziert, andererseits hat man neue Bezugsmöglichkeiten erschlossen», wie Christian Opitz (41), Energie-Experte an der Universität St. Gallen, erklärt. Einer dieser neuen Möglichkeiten: verflüssigtes Erdgas, auch LNG (Liquefied Natural Gas) genannt.
LNG agiler als Pipeline-Gas
Ein entscheidender Vorteil von LNG ist die Transportform. Herkömmliches Gas muss in mühsam gebauten Pipelines von A nach B transportiert werden, während LNG auf grossen Tankern agil über die Weltmeere geschifft wird, die überall andocken können, wo ein LNG-Terminal steht. Kein Wunder schiessen LNG-Terminals in Europa wie Pilze aus dem Boden. Allein in Deutschland wurde das Terminal in Wilhelmshaven innert weniger Monate realisiert, sechs weitere sind bereits in Planung. Und auch in Italien, Frankreich und Grossbritannien werden fleissig Terminals geplant.
Auch wenn der Gas-Import aus Russland stark gedrosselt wurde: Noch immer kommen 13 Prozent der europäischen LNG-Importe von dort. Somit gehört Russland zusammen mit den USA und Katar zu den grössten LNG-Exporteuren. Hans Poser (55), Energie-Berater von Finadvice, führt aus: «Ein wegfallender Gasbezug über eine Pipeline bedeutet für Russland einen Umsatzverlust. Für verflüssigtes Erdgas gibt es dagegen einen internationalen Markt.»
LNG – kontroverse Rettung aus der Gaskrise
So weit, so gut – oder? Nicht ganz, warnt Ganna Gladkykh, Expertin für nachhaltige Energie bei der European Energy Research Alliance (EERA). LNG bringe eine Vielzahl von Problemen fürs Klima mit sich. Unter anderem ist bei LNG das Risiko höher, dass es zum «Methanschlupf» komme, also dass unverbranntes Methan in die Atmosphäre gelangt. Zudem fürchtet sich Gladkykh davor, dass sich LNG als «nachhaltigere Option zum Pipeline-Gas» etablieren wird – obwohl sich die Emissionsreduktionen auf lediglich zehn Prozent belaufen, so der zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaveränderungen (IPCC) in einem Bericht.
Eine aktuelle Analyse des Climate Action Tracker (CAT), die auf der Weltklimakonferenz in Sharm el Sheikh publiziert wurde, kommt zudem zum Schluss, dass weltweit derzeit zu viel Infrastruktur für die LNG-Versorgung aufgebaut wird. Den Daten zufolge könnte die absehbare Überversorgung an Flüssiggas schon 2030 etwa 500 Megatonnen erreichen. Das entspreche der fast fünffachen Menge dessen, was die EU 2021 an russischem Gas importiert habe.
Doch, so Poser von Finadvice: «Neue LNG-Terminals werden heute so geplant, dass sie auch grünen Ammoniak oder Wasserstoff verarbeiten können. Damit unterstützen sie die Energiewende.» Denn Wasserstoff kann durch Methanisierung in das Gasnetz eingespeist werden. Und Poser betont: «Ohne die neu gebauten LNG-Terminals kann Europa – zumindest in der kurzen Frist – nicht mit ausreichend Energie versorgt werden.»