An der Andreaskirche, wo viele Zivilisten in Massengräbern gefunden wurden, leitet Priester Andrij Halawin von der neuen Orthodoxen Kirche der Ukraine Trauerzeremonien für jene, die aktuell im Krieg fallen. In vielen Kirchen mischt sich in den Abschied von gefallenen Soldaten zusätzlich die Erinnerung an den Jahrestag des Massakers von Butscha.
Auf dem Friedhof am Rande des Orts mit seinen einst 36 000 Einwohnern liegen auch anonyme Gräber nicht identifizierter Toter. Auf vielen anderen Ruhestätten wehen die blau-gelben Flaggen der Ukraine, zu sehen sind Fotos der gefallenen Verteidiger des Landes.
Wie kein anderer Ort steht Butscha, eine gute halbe Stunde von der Hauptstadt Kiew entfernt, für die Gräueltaten des Kriegs. Auf dem Weg dorthin sind die Spuren der Kämpfe der ukrainischen Truppen gegen die russische Armee unübersehbar: an Gebäuden die Zerstörungen, es gibt Einschlaglöcher, zerborstene Scheiben und zertrümmerte Strassen.
Vor einem Jahr, am 2. April, nur Tage nach dem russischen Abzug, gingen auch die Bilder von Leichen auf der Jablunska-Strasse um die Welt. Sie liegt weit abseits des Zentrums von Butscha in einer Siedlung mit kleinen Häusern und überschaubaren Grundstücken. Einige der Toten hatten auf dem Rücken gefesselte Hände. Ein toter Mann lag neben seinem Fahrrad. Ein Jahr später ist in der Strasse kaum noch etwas zu sehen von den Szenen der Gewalt. Einschusslöcher an Zäunen und Gebäuden zeugen von Kämpfen. Die Strasse ist menschenleer.
Nach unterschiedlichen Angaben sollen allein in Butscha entweder 422 oder 461 Zivilisten getötet worden sein. Generalstaatsanwalt Andrij Kostin spricht sogar von 700 Menschen, die nach dem russischen Einmarsch ums Leben gekommen seien. Kostin berichtet zudem von bereits 91 identifizierten russischen Soldaten, die an den über 9000 registrierten Kriegsverbrechen im Kreis Butscha beteiligt gewesen sein sollen. «Folter, Mord, sexuelle Gewalt. Das ist das wahre Gesicht der «russischen Welt» und des Regimes der Russischen Föderation, das auf der völligen Missachtung der Prinzipien der Menschenrechte gegründet ist», sagte Kostin im Februar.
Im gesamten Kiewer Gebiet sind bis Anfang März dieses Jahres laut Polizeichef Andrij Njebytow 1444 Leichen von Zivilisten gefunden worden. Knapp 200 Leichen konnten dabei noch nicht identifiziert werden. «Wir nehmen die DNA, verarbeiten alle Vermisstenanzeigen und wenden uns an die Verwandten und versuchen, sie zu identifizieren», sagte Njebytow dem ukrainischen öffentlich-rechtlichen Fernsehen.
Mit eindringlichen Videos erinnert die Ukraine nun - ein Jahr später - wieder an die Verbrechen. Schon zum Jahrestag des Kriegsbeginns am 24. Februar bezeichnete Präsident Wolodymyr Selenskyj Butscha als sein persönlich schlimmstes Kriegserlebnis. Die Führung in Kiew zeigte vor einem Jahr nach dem Abzug der russischen Truppen die Leichen. Staatsgäste aus dem Ausland besuchten den Ort, wo Einsatzkräfte die Leichen in schwarzen Säcken aus den Gräbern zogen.
«Ereignisse, die man sich im 21. Jahrhundert nicht vorstellen konnte, wurden in den Vororten von Kiew, Butscha und Irpin, zur Realität», sagt Selenskyj zum Jahrestag des Massakers. «Doch die Befreiung des Gebietes Kiew wurde zu einem Symbol dessen, dass die Ukraine in diesem Krieg gewinnen kann.» Am Freitag besuchte er auch Butscha selbst mit Staatsgästen und ehrte Soldaten mit Orden.
Die ukrainische Post, die immer wieder Kiews Triumphe auf Briefmarken verewigt, präsentierte am Freitag mehrere Wertzeichen. Das Motto der Briefmarken: «Kein Vergeben! Kein Vergessen!» Symbolisch für Butscha ist auf der Marke ein Foto mit einer zerstörten russischen Militärkolonne auf der Bahnhofsstrasse der Kleinstadt abgebildet.
Die Bilder des Grauens sind allgegenwärtig, die Beweise aus Sicht auch von Menschenrechtlern erdrückend. Es gibt unzählige Vorwürfe gegen die Russen, darunter Mord, Folter, Vergewaltigung. Trotzdem weist Russland, das am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert war, auch zum Jahrestag zurück, Kriegsverbrechen begangen zu haben.
In einer langen Stellungnahme behauptete die Sprecherin des russischen Aussenministeriums, Maria Sacharowa, einmal mehr, es habe sich um eine Inszenierung gehandelt, um eine diplomatische Lösung des Konflikts zu verhindern. Russland habe sich damals bei Verhandlungen in der Türkei offen gezeigt und als Zeichen dafür seine Truppen aus der Region Kiew abgezogen. «Als Antwort hat die ukrainische Führung die grobe und zynische Provokation in Butscha inszeniert.»
Trotz russischer Forderungen gebe es keine offiziellen Namenslisten oder gerichtsmedizinische Gutachten zu den Zivilisten, «deren Leichen auf den Strassen gezeigt wurden», sagte Sacharowa. Die im Internet und sozialen Netzwerken veröffentlichten Fotos bezeichnete sie als Manipulation. «Das Selenskyj-Regime hat etwas zu verbergen.»
Klar ist, dass die Menschen in Butscha ohne den russischen Einmarsch noch leben würden. In der Andreaskirche bleibt Priester Halawin nur die Trauerarbeit und das Beten – für einen Sieg des Landes gegen die russischen Besatzer. Er steht am offenen Sarg eines gefallenden Soldaten. Dutzende sind gekommen, um sich von Ihor Djukarjew zu verabschieden, seine Mutter und die Witwe küssen den Toten.
Der 24-Jährige wurde am 20. Februar bei Kämpfen nahe Dibrowa im Gebiet Luhansk getötet. Er war zusammen mit Mutter und Schwestern als Kind 2014 vor den Kämpfen aus dem Donbass nach Butscha geflohen. Am 24. Februar 2022 meldete er sich bei Kriegsausbruch freiwillig und war der jüngste in seiner Einheit. Ein Jahr später, es ist der 25. Februar, wird er am Friedhof von Butscha von Soldaten in Uniform zu Grabe getragen. Viele von ihnen lassen ihren Tränen freien Lauf.
(SDA)