«Leider sieht im Moment niemand ein Ende in diesem Krieg»
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Finnischer Präsident Niinistö:«Leider sieht im Moment niemand ein Ende in diesem Krieg»

Russland-Experte Erich Gysling über neue Nato-Rhetorik
«Die Solidarität des Westens hat Grenzen»

Der Frieden in der Ukraine hat laut Jens Stoltenberg (63) einen Preis – und dieser wird in territorialen Zugeständnissen an Russland abgegolten. Blick sprach mit Russland-Experte Erich Gysling (85) über die erstaunlichen Aussagen des Nato-Generalsekretärs.
Publiziert: 14.06.2022 um 00:15 Uhr
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Aktualisiert: 14.06.2022 um 09:42 Uhr
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«Ukrainer haben wohl nicht damit gerechnet, dass die Russen sich im Osten und Südosten derart festkrallen»: Russland-Experte Erich Gysling.
Foto: Thomas Meier
Georg Nopper

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg (63) sagte am Sonntag bei einer Diskussionsveranstaltung in Finnland, für einen Frieden müsse die Ukraine Territorium opfern. Macht sich im Westen Ukraine-Ermüdung breit? Frieden habe seinen Preis, sagte Stoltenberg: «Frieden ist möglich. Die Frage ist nur: Welchen Preis sind (die Ukrainer) bereit, für den Frieden zu zahlen? Wie viel Territorium, wie viel Unabhängigkeit, wie viel Souveränität sind sie bereit, für den Frieden zu opfern?»

Die Aussagen des Nato-Generalsekretärs erstaunen vor dem Hintergrund, dass westliche Politiker – und auch Stoltenberg selbst – in der Vergangenheit immer wieder betonten, ein ukrainischer Sieg in diesem Krieg sei möglich. Kann überhaupt noch von einem ukrainischen Sieg die Rede sein, wenn das Land Territorium an Russland abgeben muss?

Blick sprach mit Russland-Experte Erich Gysling (85) über die Bedeutung der Aussagen: «Stoltenberg hat das in Form einer Frage formuliert», sagt Gysling. «Die Ukraine müsse sich fragen, ob sie bereit wäre, auf gewisse Territorien zu verzichten. Die Entscheidung liege letztendlich aber bei der Ukraine.» An der grundsätzlichen Haltung der Nato oder der westlichen Entscheidungsträger im Bezug auf den Konflikt hat sich laut Gyslig nichts geändert.

Opferzahlen «wahnsinnig gross»

Die geänderte Rhetorik des Nato-Chefs fällt trotzdem ins Auge. «Dieser Krieg wird am Verhandlungstisch beendet», sagte Stoltenberg am Sonntag. Noch im Mai hatte er erklärt, die «Ukraine kann diesen Krieg gewinnen».

Weshalb diese rhetorische Kehrtwende? Laut Gysling widerspiegelt dies die Unsicherheit über den weiteren Verlauf des Krieges. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selsenski (44) mache ja auch immer wieder Bemerkungen in die eine oder in die andere Richtung. «Auch er sagte einmal, der Konflikt könne von der Ukraine nicht nur militärisch gewonnen werden. Auch er sagte, der Krieg müsse am Verhandlungstisch enden», sagt Gysling. Trotzdem: «Auch die Ukrainer haben wohl nicht damit gerechnet, dass die Russen sich im Osten und Südosten des Landes derart festkrallen.»

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Inzwischen zeigt sich laut Gysling auch, dass die Opferzahlen «wahnsinnig gross» sind. Auch auf ukrainischer Seite: «Die Ukraine hat nach eigenen Angaben 10’000 Soldaten verloren. Auf russischer Seite dürfte die Zahl noch höher sein. Dieser Krieg hat eine Eigendynamik entwickelt, die man nicht erkennen konnte vor wenigen Wochen.»

Ukraine mit zunehmend unrealistischen Forderungen

Wenn man die heutige Situation, bei der sich für die Ukraine ein Gebietsverlust abzeichnet, mit der Situation vor dem Krieg vergleicht, fällt es trotz grosser russischer Verluste schwer, die Ukraine als Siegerin in diesem Konflikt zu sehen. «Der Westen und die Nato sollten die Ukraine in eine möglichst starke Position versetzen», sagt Gysling dazu. «Die Frage ist: Wie viel Durchhaltevermögen hat die Ukraine, auch mithilfe der Waffenunterstützung durch die Nato?»

In diesem Zusammenhang müsse allerdings auch gesagt werden, «dass die Forderungen von der Ukraine inzwischen in Dimensionen steigen, die von der Nato nicht gewährleistet werden können». Kiew fordere je nach Quelle 500 Panzer oder mehr, 2000 gepanzerte Fahrzeuge, 1000 Drohnen. «Man darf nicht vergessen: Dieses Material ist nicht einfach vorhanden und muss teilweise zuerst hergestellt werden», sagt Gysling. «Die Nato-Staaten müssen zudem auch ihre eigene Verteidigungsfähigkeit aufrechterhalten.»

«Wasser auf die Mühlen von Putin»

Der rhetorische Kurswechsel Stoltenbergs bedeutet laut Gysling, «dass die Nato sieht, dass es Grenzen gibt bei dieser Solidarität, die der Westen gewährleisten kann». Ob die Aussagen Stoltenbergs geschickt waren, sei eine andere Frage. «Diese sind natürlich Wasser auf die Mühlen des russischen Präsidenten Wladimir Putin (69). So kann er wieder behaupten, dass im Westen Uneinigkeit herrscht in Bezug auf das Vorgehen gegen Russland.»

Die Nato-Staaten sollen der Ukraine laut Stoltenberg weiterhin Waffen liefern, um ihre Position am Verhandlungstisch zu stärken. Gleichzeitig sind die diplomatischen Bemühungen um eine Lösung des Konflikts jedoch zum Erliegen gekommen. Ein neuer Anlauf sowie der Abschluss von Verhandlungen dürften viel Zeit in Anspruch nehmen.

Gysling: «Vorläufig wird gar nichts ernsthaft verhandelt. Beide Seiten schauen derzeit, wie viel Durchhaltewillen der Gegner hat. Die Hoffnung der Ukraine ist, dass die russische Seite immer schwächer wird. Bei Russland mit einer Einwohnerzahl von über 144 Millionen sind die personellen Ressourcen natürlich grösser als bei der Ukraine. Aber anscheinend sind sie weniger gross als vor Beginn des Krieges zunächst angenommen.»

Vormarsch der Russen in Sjewjerodonezk

Welche Seite davon profitieren wird, wenn sich der Konflikt in die Länge zieht, wird sich zeigen. Momentan sieht die Situation auf dem Schlachtfeld eher ungünstig aus für die Ukraine: Der östliche und südöstliche Rand der Ukraine scheint mehr oder weniger fest in der Hand der russischen Armee zu sein. Am Montag wurde zudem von ukrainischer Seite die Einnahme des Zentrums der Stadt Sjewjerodonezk durch russische Truppen vermeldet.

«Bei Sjewjerodonezk gibt es derzeit noch ein ukrainisch kontrolliertes Gebiet, das wie eine Tasche in den von den russischen Truppen besetzten Bereich hineinragt», sagt Gysling. «Ich vermute, dass es Russland wie vor einigen Wochen in Mariupol auch hier gelingen wird, den Rest zu erobern.»

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