«Ich fühle Scham und Schuld»
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Russischer Autor Schischkin:«Ich fühle Scham und Schuld»

Russischer Erfolgsautor über Wladimir Putin
«Ein Monster ohne Maske»

Er lebt in der Schweiz, der Kreml führt ihn auf der schwarzen Liste, in Russland ist er ein Star: Michail Schischkin (61) sieht das Ende des Regimes Putin voraus.
Publiziert: 27.02.2022 um 15:03 Uhr
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Aktualisiert: 27.02.2022 um 15:25 Uhr
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Michail Schischkin zu Hause in Kleinlützel SO.
Foto: Siggi Bucher
Interview: Tobias Marti und Siggi Bucher Fotos

Donnerstag, 24. Februar. Russland ist in die Ukraine einmarschiert, auf Kiew fallen Bomben. Michail Schischkin öffnet die Tür zu seinem Haus im Solothurnischen und bittet herein. «Die Welt ist eine andere geworden», sagt er. Ein Nachrichtensender läuft, jede Minute ändert sich die Lage, die Stimmung ist gedrückt. Das Ehepaar Schischkin hat Verwandte in Russland, Freunde in der Ukraine. Ab und zu nehmen sich die beiden in die Arme.

SonntagsBlick: Herr Schischkin, wie geht es Ihnen?
Michail Schischkin: Ich bin entsetzt. Blankes Entsetzen. Jetzt ist es passiert. Russland hat die Ukraine angegriffen. Und es tut mir wahnsinnig weh. Ich bin Russe, das ist mein Land, in meinem Namen wird ein fürchterliches Verbrechen begangen. Ich will die Ukrainer um Verzeihung bitten, ich fühle mich so schuldig. Aber das Geschehen kann man nicht verzeihen.

Die Lage ist chaotisch. Was wissen Sie?
Die Situation verändert sich minütlich. Ich glaube, Putin wird bald eine Pause machen und schauen, wie die Reaktion des Westens ausfällt. Wenn das nur Sanktionen und Einreiseverbote sind, wird er begreifen, dass der Westen nachgibt. Mit jedem Schritt wird seine Position stärker. Er wartet und schaut zu, wie die Ukraine stirbt.

Persönlich: Michail Schischkin

Michail Schischkin wurde 1961 in Moskau geboren. Er arbeitete als Lehrer, Journalist und Übersetzer. Seit 1995 lebt er in der Schweiz. Schischkin wird international als einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller der Gegenwart gefeiert. Als einziger Autor ist er in Russland mit den drei wichtigsten Literaturpreisen ausgezeichnet worden. Seine Bücher wurden in 35 Sprachen übersetzt. Seit 2014 meidet er Russland der Politik wegen. Sein jüngstes Buch zum Thema: «Frieden oder Krieg. Russland und der Westen – eine Annäherung».

Michail Schischkin wurde 1961 in Moskau geboren. Er arbeitete als Lehrer, Journalist und Übersetzer. Seit 1995 lebt er in der Schweiz. Schischkin wird international als einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller der Gegenwart gefeiert. Als einziger Autor ist er in Russland mit den drei wichtigsten Literaturpreisen ausgezeichnet worden. Seine Bücher wurden in 35 Sprachen übersetzt. Seit 2014 meidet er Russland der Politik wegen. Sein jüngstes Buch zum Thema: «Frieden oder Krieg. Russland und der Westen – eine Annäherung».

Aber was kann der Westen tun?
Der Westen hat jetzt erst gemerkt, dass er mit Russland im Krieg ist. Umgekehrt ist Russland aber bereits seit Jahren im Krieg. Der Plan sieht nur den Sieg vor: Putin wird die Einsätze in diesem tödlichen Pokerspiel so lange erhöhen, bis der Westen nachgibt. Will die Nato wirklich wegen der Ukraine die Welt im nuklearen Inferno verrecken lassen? Die russischen Generäle sind sicher, dass die westlichen Demokratien die Ukraine früher oder später verraten werden. Ich fürchte, das stimmt. Die Nato wird sich militärisch nicht einmischen. Die Frage ist, wann westliche Politiker bereit wären, auf den roten Knopf zu drücken. Putin glaubt, dass sie das nie tun. Er hat ja Erfahrungen mit Südossetien, Abchasien und der Krim gemacht. Der Mann hat genug demokratische Staatsoberhäupter gesehen. Heute bist du Kanzler Deutschlands, morgen Putins Lakai.

Bloss: Sind Putins Aktionen überhaupt noch rational zu fassen?
Er zeigt der Welt, dass er zu allem bereit ist. Sein Plan ist, allen Angst einzujagen. Die Welt muss entsetzt sein. Und die Welt ist entsetzt. Total. Er ist jetzt ein Monster ohne Maske. Aber er war immer ein Monster. Für den Westen, auch für die Schweizer, fällt nun diese Maske. Für mich fiel sie bereits im Jahr 2000. Das Erste, was der KGB-Mann Putin tat, als er an die Macht kam: Er führte die alte Stalin-Hymne als die neue Hymne der Russischen Föderation ein. Im gleichen Jahr brauchte er auch noch einen kleinen, siegreichen Krieg. Also erfand er einen Vorwand, um in Tschetschenien einzugreifen.

Aber warum jetzt? Wieso braucht er 2022 wieder einen Krieg?
Es gibt die Psychologie der normalen Menschen. Und dann gibt es Putin. Offensichtlich können wir seine Seele nicht verstehen. Wir können nur versuchen nachzuvollziehen, warum er sich so benimmt: Er ist alt, er ist wahnsinnig,er hat wenig Zeit … Es gibt Berichte, nach denen er krank sei. Kurz: Wir wissen nicht, was ihn zwingt. Vielleicht sein Generalstab? Vielleicht ist er nicht Subjekt, sondern Objekt?

Aber will er tatsächlich zurück zu den alten Grenzen der Sowjetunion?
Der Mann meint, gross zu sein. Weil grosse Männer die grosse Geschichte machen. Aber auf das ganze Gerede, der Zerfall der Sowjetunion sei für ihn «die grösste geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts» gewesen, gebe ich nichts. In Wirklichkeit hat seine kriminelle Bande den Staat gekapert und die Bevölkerung beraubt. Eine Diktatur lebt von Feinden. Die Propaganda hämmert in die Köpfe ein, der Westen sei an der Misere schuld. Die Ukraine wurde zum Feind Nummer eins erklärt, weil die Ukrainer den Weg der Demokratie wählten. Eine florierende demokratische Ukraine wäre ein Vorbild für die Russen. Das will Putin mit allen Mitteln verhindern.

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Wo führt das hin?
Es ist der Anfang seiner Selbstzerstörung. Wir sehen Putins Harakiri. Ein Suizid des Regimes. Ohne diesen Krieg hätte es noch lange weitergehen können. Jetzt wird alles schnell gehen, Moskau wird keine Unterstützung des Westens mehr bekommen. Aber Herz und Seele des Regimes sind im Westen, nämlich in Form der westlichen Banken. Jetzt wird die ganze putinsche Elite von ihren Pfründen abgeschnitten. Plötzlich erwacht die ganze Bande in einem neuen Nordkorea, völlig isoliert.

Sie sprechen die Banken an. Auch in die Schweiz flossen seit der Krim-Annexion 2014 immer mehr russische Investitionen. Der Kapitalbestand der russischen Direktinvestitionen betrug 2014 acht Milliarden Franken, 2018 waren es schon 29 Milliarden.
Klar. Das Putin-Regime hat gespürt, wohin die Reise geht. England mit dem Finanzplatz London sowie die USA sind Nato-Länder. Im Krieg ist dort die Gefahr höher, das Geld zu verlieren. Die Schweiz dagegen wird immer neutral sein. Was hat Nazi-Deutschland mit der Schweiz gemacht? Die Geschichte wiederholt sich.

Sie beschreiben eine hässliche Rolle.
Es sollte für die Schweiz eine Offenbarung sein. Ich habe hierzulande jahrelang als Dolmetscher mein Brot verdient. Ich habe miterlebt, wie Schweizer Banker, Manager und Anwälte sich über das grosse Geld aus Russland gefreut haben. Obwohl sie ganz genau wussten, dass es unsauberes Geld war. Sie wurden zu Helfershelfern. Das sind Verbrecher, und sie wussten, dass sie das Gesetz brachen. In der Schweiz hört beim grossen Geld der Rechtsstaat auf. Ich kritisiere das seit Jahren.

Was sollte die Eidgenossenschaft tun?
Der Schweizer Staat hat als Geldwäsche-Maschine funktioniert. Die Regierung sollte sich dafür entschuldigen, so lange geduldet zu haben, dass ihre eigenen Gesetze nicht angewendet wurden. Ein Teil des schmutzigen russischen Gelds in den Schweizer Banken ging ja als Steuern an die Staatskasse. Davon haben dann alle profitiert. Ausserdem sollte die Schweiz alle Sanktionen mittragen. Die Konten der russischen Oligarchen einfrieren, die eigenen Gesetze befolgen. Verbrecher gehören ins Gefängnis, sowohl die Russen wie auch jene Schweizer, die mitgemacht haben.

Was machen Sie in den nächsten Tagen?
Ich fühle mich wie im Krankenhaus an der Infusion. Aus dem Internet tröpfeln jede Minute neue Nachrichten rein. Aber ich muss was tun. Ich plane eine Solidaritätsveranstaltung in Basel oder Zürich.

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