Das war der Brand der Notre Dame
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Rückblick auf die Tragödie:Das war der Brand der Notre Dame

Russische Journalistin war im Schiff der Notre-Dame, während die Kirche brannte
«Gaffer haben uns die Ausgänge versperrt»

Das Inferno erinnert an Frankreichs Trauma: die Zerstörung seiner sakraler Schätze. Im Mutterland von Kirche und Staat ist ein Kult um die Kathedrale Notre-Dame entstanden.
Publiziert: 20.04.2019 um 23:56 Uhr
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Aktualisiert: 23.04.2019 um 10:58 Uhr
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Die Künstler an der Seine verewigen die Kirche nun ohne den eingestürzten Dachreiter.
Foto: Lucie Clement
Reza Rafi

Als der Superstar das Wort ergreift, verebbt der frenetische Applaus. Lang Lang (36) spricht von der Bühne der Philharmonie de Paris; er ist gekommen, um den «Black Diamond» vorzustellen, den neusten Steinway-Flügel.

Bevor der grösste Pianist der Gegenwart zu spielen beginnt, sagt er mit brüchiger Stimme, er wolle das Konzert Notre-Dame widmen, dem «schönsten Gebäude der Welt» – und bittet um eine Schweigeminute für die Kathedrale. Der Saal mit 1300 Besuchern versinkt in tiefer Andacht.

Ins Gedächtnis der Hauptstadt gebrannt

Es ist Dienstag. Drüben auf der Île de la Cité glüht noch die Asche vom Vortag, als der Dachstock von ­Notre-Dame de Paris, dem Sinnbild der französischen Gotik, lichterloh in Flammen stand. Das Bild des kollabierenden Vierungsturms aus dem 19. Jahrhundert brannte sich in das Gedächtnis der Hauptstadt.

Unter den Konzertbesuchern ist Larissa, eine Journalistin aus St. Petersburg. Sie war im Schiff der Kirche, während das Feuer ausbrach. «Als ich die Schreie hörte, dachte ich an einen Terroranschlag», sagt sie. Zusammen mit einigen Dutzend anderer Touristen blieb sie drin, weil die Sicherheitsleute zunächst das Gebäude abriegelten. «Irgendwann wurde uns klar: Es brennt! Aber wir konnten eine gefühlte Ewigkeit nicht raus, weil Gaffer die Ausgänge versperrten.»

Turmfront verschont

Sie kann erst jetzt wieder ruhig schlafen – weil sie weiss, dass kein Besucher zu Schaden gekommen ist. Und mittlerweile sicher ist, dass die weltberühmte Turmfront mit dem Hauptportal verschont wurde. Doch die 
Öffentlichkeit bleibt im Kata­strophenmodus. «Frankreichs Herz brennt», titelte «Paris Match».

Doch brennt auch das Herz der Französinnen und Franzosen? Augenschein in der Brasserie Bofinger, unweit der Place de la Bastille. 1864 gegründet, wurde das Lokal weltweites Vorbild für Brasserien. Stopfleber und Austern werden im Akkord aufgetischt. François Mitterrand feierte hier 1981 seine Wahl zum Staatspräsidenten.

Sogar Hitler stand in Paris

Mehr Frankreich als im Bofinger geht nicht. Am Nebentisch sitzt die Pariserin Madeleine mit ihren beiden Töchtern und dem Schwiegersohn. Es gibt eine üppige Fleischplatte. Die vier stossen mit Bier auf den 35. Geburtstag von Tochter Julie an. Die packt ein Geschenk aus: zwei Eierbecher aus Porzellan.

Und Notre-Dame? «Die Bilder des Brandes haben mich schockiert», sagt Madeleine. Die Kathedrale sei Teil «unserer Stadt, unseres Landes, unserer Geschichte». Es habe so viele Situa­tionen gegeben, in denen die Kirche vor der Zerstörung stand. «Aber sie hat alles überstanden. So viele Herrscher sind gekommen und gegangen, sogar Hitler stand in Paris! Aber er ist weg. Und Notre-Dame steht noch. N’est-ce pas?»

Aber es handelt sich doch vor allem um ein Gotteshaus! «In die Kirche gehe ich nur an Weihnachten», lacht Julie. Trotzdem, man sei halt schon ein bisschen stolz auf das Bauwerk.

Andere Kathedralen waren wichtiger

Im 14. Jahrhundert fertiggestellt, war Notre-Dame nicht immer so sinnstiftend für das Land wie heute – galten doch zum Beispiel die Kathedralen von 
Char­tres, Amiens oder Reims stets als die wichtigeren Monumente des französischen Mittelalters.

Die Könige des Reichs bevorzugten als Grabstätte sowieso die Abtei von Saint-Denis.

Weil ihnen der Rummel und der Dreck lästig wurden, kehrten die Monarchen auch im Diesseits der Hauptstadt und ihrer Bischofskirche den Rücken – ein Jagdschlösschen im Pariser Vorort Versailles wurde im 17. Jahrhundert zur prächtigen Palastanlage ausgebaut.

Entweiht und zum Tempel der Vernunft erklärt

Nach der Revolution von 1789 war es um Notre- Dame nicht besser bestellt, im Gegenteil: 1791 wurde das Gotteshaus entweiht und zum «Tempel der Vernunft» erklärt. Zeitweise soll das Gemäuer als Weindepot gedient haben. Viele Schätze des Mittelalters wurden zerstört; die 28 biblischen Könige von Juda über dem Portal hatte man für Abbilder von Frankreichs Königen gehalten und abgeschlagen. Immerhin – von der kompletten Zerstörung blieb Notre-­Dame verschont, während die Revolutionäre andere Kirchen zu Viehställen umfunktionierten oder gleich abrissen.

Napoleon verhalf Notre-Dame 1804 zu einem Comeback: Er wählte sie als Ort seiner Krönung zum Kaiser.

Der Durchbruch zur Ikone folgte 1831: Victor Hugo verewigte das Haus mit dem «Glöckner von Notre-Dame» in der Weltliteratur.

Steinerne Diva

Die einst vernachlässigte Kirche wurde im Land des Laizismus – der strikten Trennung von Religion und Politik – zur steinernen Diva: Die Abdankungen für Charles de Gaulle und Mitterrand fanden hier statt. Dank Hugo wurde Notre-Dame zum Sujet für Märchen, Musicals und Filme, für Postkarten, Dächlikappen und T-Shirts.

Am Dienstag twitterte Bürgermeisterin Anne ­Hidalgo (59) das aus dem 
16. Jahrhundert rührende Motto von Paris: «Fluctuat nec mergitur.» Übersetzt bedeutet das etwa: «Sie schwankt, aber sie geht nicht unter.»

Es scheint, als hätten die Stadtväter bei der Wahl des Leitspruchs nur an sie gedacht: ihre geliebte Notre-Dame. 

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